Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite
Bestande keine Mittel haben, zeigt der Vorgang der Vereinigten Staaten
von Nordamerika; ferner die Schweiz im Jahre 1848. Freilich war hier
keine persönliche Eitelkeit und keine Sorge für das Interesse Einzelner zu
überwinden!
9) Es ist gleich unrichtig, die Revolutionen als ein unvermeidliches
Naturereigniß anzusehen, welches gar keinen Berechnungen und keinen sitt-
lichen Gesetzen unterworfen sei, und welches man denn eben mit allen
seinen Folgen, etwa wie ein Erdbeben, über sich ergehen lassen müsse; und
sie zu betrachten als eine unerlaßbare Sünde gegen die göttliche Weltordnung,
als ein in keiner Weise zu entschuldigendes Unrecht, und als eine unvermischte
Masse von Verbrechen und Uebeln, welche unter allen Umständen auf Tod
und Leben zu bekämpfen und deren Urheber und Theilnehmer als der Aus-
wurf der Menschheit zu bezeichnen seien. Mit einem Worte, weder der
mechanische Fatalismus von Thiers und anderen Franzosen, noch die
süßliche Theologie und die handgreiflichen Begriffsverwechslungen und Trug-
schlüsse Stahl's geben die Wahrheit. Gewaltsame Umwälzungen sind keine
blose Naturgewalt und Thatsache, weil sie die logisch richtigen Folgen mensch-
licher Fehler und Leidenschaften sind, und schon in ihren Ursachen vermie-
den, möglicherweise selbst noch im Verlaufe durch stärkere Gegenmittel auf-
gehalten werden können. Unrecht und Unsittlichkeit aber sind sie nur, wenn
sie ohne zureichende Rechtfertigung begonnen wurden, d. h. wegen unwichtiger
Beschwerden, ohne vernünftige Aussicht auf Erfolg, und so lange noch
andere regelmäßige Mittel zur Abhülfe vorhanden waren. Allerdings führen
sie in der Regel unermeßliche Uebel und Verbrechen mit sich; allein die
größere Hälfte der Schuld trifft Diejenigen, welche durch Beharren auf
unerträglichem Widersinne und Unrechte zu einem so fürchterlichen und so
unsicheren Heilmittel hingedrängt haben. Die Frage ist schließlich eben hier,
wie noch in einigen andern Fällen des Staatslebens, ob der Mensch Gewalt
und Unrecht bis zu wesentlicher Beeinträchtigung seiner ganzen Lebenszwecke
widerstandslos zu tragen verpflichtet und sittlich berechtigt ist? ob es im
Staatsleben keinen Zustand der Nothwehr gibt? Natürlich begreift eine aus
Mannesgefühl und aus Achtung vor Menschenrecht hervorgegangene Ant-
wort weder die Rechtfertigung ehrgeiziger oder mit dem Leben zerfallener
Verschwörer, noch die Vertheidigung und Verschleterung von Grausamkeiten,
als angeblich revolutionärer Mittel, in sich. Wer aber die Rechts- und
Sittlichkeitsfragen in Beziehung auf diesen, durch Stillschweigen doch nicht
ganz zu vermeidenden Zustand, scharf ins Auge faßt und grundsätzlich zu
beantworten sucht, ist nicht etwa ein Feind, sondern im Gegentheile ein
vorsorgender Freund begründeten Rechtes und allgemeinen Wohlergehens.

Beſtande keine Mittel haben, zeigt der Vorgang der Vereinigten Staaten
von Nordamerika; ferner die Schweiz im Jahre 1848. Freilich war hier
keine perſönliche Eitelkeit und keine Sorge für das Intereſſe Einzelner zu
überwinden!
9) Es iſt gleich unrichtig, die Revolutionen als ein unvermeidliches
Naturereigniß anzuſehen, welches gar keinen Berechnungen und keinen ſitt-
lichen Geſetzen unterworfen ſei, und welches man denn eben mit allen
ſeinen Folgen, etwa wie ein Erdbeben, über ſich ergehen laſſen müſſe; und
ſie zu betrachten als eine unerlaßbare Sünde gegen die göttliche Weltordnung,
als ein in keiner Weiſe zu entſchuldigendes Unrecht, und als eine unvermiſchte
Maſſe von Verbrechen und Uebeln, welche unter allen Umſtänden auf Tod
und Leben zu bekämpfen und deren Urheber und Theilnehmer als der Aus-
wurf der Menſchheit zu bezeichnen ſeien. Mit einem Worte, weder der
mechaniſche Fatalismus von Thiers und anderen Franzoſen, noch die
ſüßliche Theologie und die handgreiflichen Begriffsverwechslungen und Trug-
ſchlüſſe Stahl’s geben die Wahrheit. Gewaltſame Umwälzungen ſind keine
bloſe Naturgewalt und Thatſache, weil ſie die logiſch richtigen Folgen menſch-
licher Fehler und Leidenſchaften ſind, und ſchon in ihren Urſachen vermie-
den, möglicherweiſe ſelbſt noch im Verlaufe durch ſtärkere Gegenmittel auf-
gehalten werden können. Unrecht und Unſittlichkeit aber ſind ſie nur, wenn
ſie ohne zureichende Rechtfertigung begonnen wurden, d. h. wegen unwichtiger
Beſchwerden, ohne vernünftige Ausſicht auf Erfolg, und ſo lange noch
andere regelmäßige Mittel zur Abhülfe vorhanden waren. Allerdings führen
ſie in der Regel unermeßliche Uebel und Verbrechen mit ſich; allein die
größere Hälfte der Schuld trifft Diejenigen, welche durch Beharren auf
unerträglichem Widerſinne und Unrechte zu einem ſo fürchterlichen und ſo
unſicheren Heilmittel hingedrängt haben. Die Frage iſt ſchließlich eben hier,
wie noch in einigen andern Fällen des Staatslebens, ob der Menſch Gewalt
und Unrecht bis zu weſentlicher Beeinträchtigung ſeiner ganzen Lebenszwecke
widerſtandslos zu tragen verpflichtet und ſittlich berechtigt iſt? ob es im
Staatsleben keinen Zuſtand der Nothwehr gibt? Natürlich begreift eine aus
Mannesgefühl und aus Achtung vor Menſchenrecht hervorgegangene Ant-
wort weder die Rechtfertigung ehrgeiziger oder mit dem Leben zerfallener
Verſchwörer, noch die Vertheidigung und Verſchleterung von Grauſamkeiten,
als angeblich revolutionärer Mittel, in ſich. Wer aber die Rechts- und
Sittlichkeitsfragen in Beziehung auf dieſen, durch Stillſchweigen doch nicht
ganz zu vermeidenden Zuſtand, ſcharf ins Auge faßt und grundſätzlich zu
beantworten ſucht, iſt nicht etwa ein Feind, ſondern im Gegentheile ein
vorſorgender Freund begründeten Rechtes und allgemeinen Wohlergehens.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <note place="end" n="8)"><pb facs="#f0183" n="169"/>
Be&#x017F;tande keine Mittel haben, zeigt der Vorgang der Vereinigten Staaten<lb/>
von Nordamerika; ferner die Schweiz im Jahre 1848. Freilich war hier<lb/>
keine per&#x017F;önliche Eitelkeit und keine Sorge für das Intere&#x017F;&#x017F;e Einzelner zu<lb/>
überwinden!</note><lb/>
            <note place="end" n="9)">Es i&#x017F;t gleich unrichtig, die Revolutionen als ein unvermeidliches<lb/>
Naturereigniß anzu&#x017F;ehen, welches gar keinen Berechnungen und keinen &#x017F;itt-<lb/>
lichen Ge&#x017F;etzen unterworfen &#x017F;ei, und welches man denn eben mit allen<lb/>
&#x017F;einen Folgen, etwa wie ein Erdbeben, über &#x017F;ich ergehen la&#x017F;&#x017F;en mü&#x017F;&#x017F;e; und<lb/>
&#x017F;ie zu betrachten als eine unerlaßbare Sünde gegen die göttliche Weltordnung,<lb/>
als ein in keiner Wei&#x017F;e zu ent&#x017F;chuldigendes Unrecht, und als eine unvermi&#x017F;chte<lb/>
Ma&#x017F;&#x017F;e von Verbrechen und Uebeln, welche unter allen Um&#x017F;tänden auf Tod<lb/>
und Leben zu bekämpfen und deren Urheber und Theilnehmer als der Aus-<lb/>
wurf der Men&#x017F;chheit zu bezeichnen &#x017F;eien. Mit einem Worte, weder der<lb/>
mechani&#x017F;che Fatalismus von Thiers und anderen Franzo&#x017F;en, noch die<lb/>
&#x017F;üßliche Theologie und die handgreiflichen Begriffsverwechslungen und Trug-<lb/>
&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e Stahl&#x2019;s geben die Wahrheit. Gewalt&#x017F;ame Umwälzungen &#x017F;ind keine<lb/>
blo&#x017F;e Naturgewalt und That&#x017F;ache, weil &#x017F;ie die logi&#x017F;ch richtigen Folgen men&#x017F;ch-<lb/>
licher Fehler und Leiden&#x017F;chaften &#x017F;ind, und &#x017F;chon in ihren Ur&#x017F;achen vermie-<lb/>
den, möglicherwei&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t noch im Verlaufe durch &#x017F;tärkere Gegenmittel auf-<lb/>
gehalten werden können. Unrecht und Un&#x017F;ittlichkeit aber &#x017F;ind &#x017F;ie nur, wenn<lb/>
&#x017F;ie ohne zureichende Rechtfertigung begonnen wurden, d. h. wegen unwichtiger<lb/>
Be&#x017F;chwerden, ohne vernünftige Aus&#x017F;icht auf Erfolg, und &#x017F;o lange noch<lb/>
andere regelmäßige Mittel zur Abhülfe vorhanden waren. Allerdings führen<lb/>
&#x017F;ie in der Regel unermeßliche Uebel und Verbrechen mit &#x017F;ich; allein die<lb/>
größere Hälfte der Schuld trifft Diejenigen, welche durch Beharren auf<lb/>
unerträglichem Wider&#x017F;inne und Unrechte zu einem &#x017F;o fürchterlichen und &#x017F;o<lb/>
un&#x017F;icheren Heilmittel hingedrängt haben. Die Frage i&#x017F;t &#x017F;chließlich eben hier,<lb/>
wie noch in einigen andern Fällen des Staatslebens, ob der Men&#x017F;ch Gewalt<lb/>
und Unrecht bis zu we&#x017F;entlicher Beeinträchtigung &#x017F;einer ganzen Lebenszwecke<lb/>
wider&#x017F;tandslos zu tragen verpflichtet und &#x017F;ittlich berechtigt i&#x017F;t? ob es im<lb/>
Staatsleben keinen Zu&#x017F;tand der Nothwehr gibt? Natürlich begreift eine aus<lb/>
Mannesgefühl und aus Achtung vor Men&#x017F;chenrecht hervorgegangene Ant-<lb/>
wort weder die Rechtfertigung ehrgeiziger oder mit dem Leben zerfallener<lb/>
Ver&#x017F;chwörer, noch die Vertheidigung und Ver&#x017F;chleterung von Grau&#x017F;amkeiten,<lb/>
als angeblich revolutionärer Mittel, in &#x017F;ich. Wer aber die Rechts- und<lb/>
Sittlichkeitsfragen in Beziehung auf die&#x017F;en, durch Still&#x017F;chweigen doch nicht<lb/>
ganz zu vermeidenden Zu&#x017F;tand, &#x017F;charf ins Auge faßt und grund&#x017F;ätzlich zu<lb/>
beantworten &#x017F;ucht, i&#x017F;t nicht etwa ein Feind, &#x017F;ondern im Gegentheile ein<lb/>
vor&#x017F;orgender Freund begründeten Rechtes und allgemeinen Wohlergehens.</note>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0183] ⁸⁾ Beſtande keine Mittel haben, zeigt der Vorgang der Vereinigten Staaten von Nordamerika; ferner die Schweiz im Jahre 1848. Freilich war hier keine perſönliche Eitelkeit und keine Sorge für das Intereſſe Einzelner zu überwinden! ⁹⁾ Es iſt gleich unrichtig, die Revolutionen als ein unvermeidliches Naturereigniß anzuſehen, welches gar keinen Berechnungen und keinen ſitt- lichen Geſetzen unterworfen ſei, und welches man denn eben mit allen ſeinen Folgen, etwa wie ein Erdbeben, über ſich ergehen laſſen müſſe; und ſie zu betrachten als eine unerlaßbare Sünde gegen die göttliche Weltordnung, als ein in keiner Weiſe zu entſchuldigendes Unrecht, und als eine unvermiſchte Maſſe von Verbrechen und Uebeln, welche unter allen Umſtänden auf Tod und Leben zu bekämpfen und deren Urheber und Theilnehmer als der Aus- wurf der Menſchheit zu bezeichnen ſeien. Mit einem Worte, weder der mechaniſche Fatalismus von Thiers und anderen Franzoſen, noch die ſüßliche Theologie und die handgreiflichen Begriffsverwechslungen und Trug- ſchlüſſe Stahl’s geben die Wahrheit. Gewaltſame Umwälzungen ſind keine bloſe Naturgewalt und Thatſache, weil ſie die logiſch richtigen Folgen menſch- licher Fehler und Leidenſchaften ſind, und ſchon in ihren Urſachen vermie- den, möglicherweiſe ſelbſt noch im Verlaufe durch ſtärkere Gegenmittel auf- gehalten werden können. Unrecht und Unſittlichkeit aber ſind ſie nur, wenn ſie ohne zureichende Rechtfertigung begonnen wurden, d. h. wegen unwichtiger Beſchwerden, ohne vernünftige Ausſicht auf Erfolg, und ſo lange noch andere regelmäßige Mittel zur Abhülfe vorhanden waren. Allerdings führen ſie in der Regel unermeßliche Uebel und Verbrechen mit ſich; allein die größere Hälfte der Schuld trifft Diejenigen, welche durch Beharren auf unerträglichem Widerſinne und Unrechte zu einem ſo fürchterlichen und ſo unſicheren Heilmittel hingedrängt haben. Die Frage iſt ſchließlich eben hier, wie noch in einigen andern Fällen des Staatslebens, ob der Menſch Gewalt und Unrecht bis zu weſentlicher Beeinträchtigung ſeiner ganzen Lebenszwecke widerſtandslos zu tragen verpflichtet und ſittlich berechtigt iſt? ob es im Staatsleben keinen Zuſtand der Nothwehr gibt? Natürlich begreift eine aus Mannesgefühl und aus Achtung vor Menſchenrecht hervorgegangene Ant- wort weder die Rechtfertigung ehrgeiziger oder mit dem Leben zerfallener Verſchwörer, noch die Vertheidigung und Verſchleterung von Grauſamkeiten, als angeblich revolutionärer Mittel, in ſich. Wer aber die Rechts- und Sittlichkeitsfragen in Beziehung auf dieſen, durch Stillſchweigen doch nicht ganz zu vermeidenden Zuſtand, ſcharf ins Auge faßt und grundſätzlich zu beantworten ſucht, iſt nicht etwa ein Feind, ſondern im Gegentheile ein vorſorgender Freund begründeten Rechtes und allgemeinen Wohlergehens.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/183
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/183>, abgerufen am 24.04.2024.