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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Handlungsfähigkeit bei jeder Vielheit von Personen. Eines be-
sonderen rechtlichen Beweises bedarf die Berechtigung aller per-
sönlich Befähigten zur Theilnahme an den gemeinschaftlichen
Angelegenheiten bei der rationalistischen und egoistisch atomi-
stischen Lebensauffassung, welche dem Rechtsstaate zu Grunde
liegt, allerdings nicht. Es ist die gemeinschaftliche Besorgung
zwar nicht die einzige rechtlich mögliche Art 2), (und in dieser
Beziehung wird nicht selten die demokratische Ansicht über die
Gebühr ausgedehnt;) allein es ist einleuchtend daß sie berechtigt
ist, sobald keine höhere, vom Willen des einzelnen Menschen
unabhängige Macht als Grundlage des Staates angenommen
wird. Nicht so einfach ist eine rechtliche Begründung der Herr-
schaft der Mehrheit. So begreiflich sie nämlich auch dann ist,
wenn der Grundsatz durch allgemeine Zustimmung für künftige
Fälle festgestellt ist: so wenig versteht sich an und für sich, daß
ein Mensch seine Lebenszwecke und seine Ueberzeugung von der
besten Durchführungsweise aufzugeben hat, weil Andere ver-
schiedener Ansicht sind. Die einzige, aber freilich auch durch-
schlagende, wirkliche Rechtfertigung ist die praktische Nothwen-
digkeit der Sache. Wenn nicht der Staat in jedem Augenblicke
auseinanderfallen soll, so muß nach einer bestimmten und nach
einer einheitlichen Norm gehandelt werden, auch wo Meinungs-
verschiedenheit besteht. Da nun weder nach Recht, noch nach
Billigkeit gefordert werden kann, daß die Vielen sich den We-
nigen fügen; auch nicht anzunehmen ist, daß sich die Wahrheit
vorzugsweise bei der Minderzahl befinde: so bleibt nichts übrig,
als die Ansicht der Mehrzahl auszuführen. Daneben hat die
Minderzahl immer das Recht, durch alle erlaubten Mittel die
Ueberzeugung für sich zu gewinnen und dadurch früher oder
später die Mehrheit zu erlangen; auch mögen immerhin Ein-
richtungen getroffen sein, welche die Minderzahl gegen Willkür
und Unterdrückung, wenigstens in bestimmten Beziehungen

Handlungsfähigkeit bei jeder Vielheit von Perſonen. Eines be-
ſonderen rechtlichen Beweiſes bedarf die Berechtigung aller per-
ſönlich Befähigten zur Theilnahme an den gemeinſchaftlichen
Angelegenheiten bei der rationaliſtiſchen und egoiſtiſch atomi-
ſtiſchen Lebensauffaſſung, welche dem Rechtsſtaate zu Grunde
liegt, allerdings nicht. Es iſt die gemeinſchaftliche Beſorgung
zwar nicht die einzige rechtlich mögliche Art 2), (und in dieſer
Beziehung wird nicht ſelten die demokratiſche Anſicht über die
Gebühr ausgedehnt;) allein es iſt einleuchtend daß ſie berechtigt
iſt, ſobald keine höhere, vom Willen des einzelnen Menſchen
unabhängige Macht als Grundlage des Staates angenommen
wird. Nicht ſo einfach iſt eine rechtliche Begründung der Herr-
ſchaft der Mehrheit. So begreiflich ſie nämlich auch dann iſt,
wenn der Grundſatz durch allgemeine Zuſtimmung für künftige
Fälle feſtgeſtellt iſt: ſo wenig verſteht ſich an und für ſich, daß
ein Menſch ſeine Lebenszwecke und ſeine Ueberzeugung von der
beſten Durchführungsweiſe aufzugeben hat, weil Andere ver-
ſchiedener Anſicht ſind. Die einzige, aber freilich auch durch-
ſchlagende, wirkliche Rechtfertigung iſt die praktiſche Nothwen-
digkeit der Sache. Wenn nicht der Staat in jedem Augenblicke
auseinanderfallen ſoll, ſo muß nach einer beſtimmten und nach
einer einheitlichen Norm gehandelt werden, auch wo Meinungs-
verſchiedenheit beſteht. Da nun weder nach Recht, noch nach
Billigkeit gefordert werden kann, daß die Vielen ſich den We-
nigen fügen; auch nicht anzunehmen iſt, daß ſich die Wahrheit
vorzugsweiſe bei der Minderzahl befinde: ſo bleibt nichts übrig,
als die Anſicht der Mehrzahl auszuführen. Daneben hat die
Minderzahl immer das Recht, durch alle erlaubten Mittel die
Ueberzeugung für ſich zu gewinnen und dadurch früher oder
ſpäter die Mehrheit zu erlangen; auch mögen immerhin Ein-
richtungen getroffen ſein, welche die Minderzahl gegen Willkür
und Unterdrückung, wenigſtens in beſtimmten Beziehungen

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[336/0350] Handlungsfähigkeit bei jeder Vielheit von Perſonen. Eines be- ſonderen rechtlichen Beweiſes bedarf die Berechtigung aller per- ſönlich Befähigten zur Theilnahme an den gemeinſchaftlichen Angelegenheiten bei der rationaliſtiſchen und egoiſtiſch atomi- ſtiſchen Lebensauffaſſung, welche dem Rechtsſtaate zu Grunde liegt, allerdings nicht. Es iſt die gemeinſchaftliche Beſorgung zwar nicht die einzige rechtlich mögliche Art 2), (und in dieſer Beziehung wird nicht ſelten die demokratiſche Anſicht über die Gebühr ausgedehnt;) allein es iſt einleuchtend daß ſie berechtigt iſt, ſobald keine höhere, vom Willen des einzelnen Menſchen unabhängige Macht als Grundlage des Staates angenommen wird. Nicht ſo einfach iſt eine rechtliche Begründung der Herr- ſchaft der Mehrheit. So begreiflich ſie nämlich auch dann iſt, wenn der Grundſatz durch allgemeine Zuſtimmung für künftige Fälle feſtgeſtellt iſt: ſo wenig verſteht ſich an und für ſich, daß ein Menſch ſeine Lebenszwecke und ſeine Ueberzeugung von der beſten Durchführungsweiſe aufzugeben hat, weil Andere ver- ſchiedener Anſicht ſind. Die einzige, aber freilich auch durch- ſchlagende, wirkliche Rechtfertigung iſt die praktiſche Nothwen- digkeit der Sache. Wenn nicht der Staat in jedem Augenblicke auseinanderfallen ſoll, ſo muß nach einer beſtimmten und nach einer einheitlichen Norm gehandelt werden, auch wo Meinungs- verſchiedenheit beſteht. Da nun weder nach Recht, noch nach Billigkeit gefordert werden kann, daß die Vielen ſich den We- nigen fügen; auch nicht anzunehmen iſt, daß ſich die Wahrheit vorzugsweiſe bei der Minderzahl befinde: ſo bleibt nichts übrig, als die Anſicht der Mehrzahl auszuführen. Daneben hat die Minderzahl immer das Recht, durch alle erlaubten Mittel die Ueberzeugung für ſich zu gewinnen und dadurch früher oder ſpäter die Mehrheit zu erlangen; auch mögen immerhin Ein- richtungen getroffen ſein, welche die Minderzahl gegen Willkür und Unterdrückung, wenigſtens in beſtimmten Beziehungen

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/350>, abgerufen am 16.04.2024.