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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Der Despot dagegen hat grundsätzlich für keinen Lebenszweck
des Volkes zu sorgen; sein augenblicklicher Wille ist für ihn
und für Andere der einzige Gegenstand des organisirten Zu-
sammenlebens. -- Tyrannei dagegen ist jede ungerechte Gewalt-
ausübung. Sie ist kein normaler und grundsätzlicher Zustand,
wie die Despotie, sondern vielmehr immer die Verletzung eines
solchen. Dem tyrannisch Behandelten stehen Gesetze und Rechte
zu, allein sie werden thatsächlich verletzt; während in der Des-
potie gar kein Gesetz und kein Recht besteht, als das des Herr-
schers. Tyrannische Regierung kann bei ungünstiger Gestaltung
der Verhältnisse und bei rechtswidrigem Willen einflußreicher
Personen in jeder Staatsgattung und Staatsform vorübergehend
vorkommen, selbst in der Demokratie; die Despotie ist eine be-
stimmte Form des staatlichen Daseins. Ein Despot kann un-
zweifelhaft in jedem Augenblicke herb und ungerecht und somit
tyrannisch handeln, allein es ist auch ein gerechtes und selbst
mildes Verfahren von seiner Seite möglich, ohne daß deßhalb
das Wesen seiner Stellung und der Staatsart sich änderte 1).

Despotieen haben, laut Ausweis der Geschichte, zu allen
Zeiten bestanden; und fast scheint es sogar, als ob diese, einem
gesittigten Volke allerdings unbegreifliche und unerträgliche,
Staatsart gewissen Himmelsstrichen und Menschenracen an-
gemessen sei. In andern Fällen ist sittlich ganz zu Grunde
gerichteten oder von Barbaren unterjochten Völkern ein solcher
Zustand auferlegt worden 2). Wie dem nun aber auch sein
mag, und wie immer sich die Erscheinung erklären läßt: jeden
Falles fordert eine vollständige wissenschaftliche Behandlung des
Staates die Erörterung auch dieser Gattung desselben; und un-
zweifelhaft haben nicht nur die geschichtlichen Disciplinen den
Bestand und die Entwicklung der Thatsachen darzulegen, sondern
auch die dogmatischen Wissenschaften das Wesen der besondern
Gestaltung zu erörtern und die daraus sich ergebenden Schluß-

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Der Despot dagegen hat grundſätzlich für keinen Lebenszweck
des Volkes zu ſorgen; ſein augenblicklicher Wille iſt für ihn
und für Andere der einzige Gegenſtand des organiſirten Zu-
ſammenlebens. — Tyrannei dagegen iſt jede ungerechte Gewalt-
ausübung. Sie iſt kein normaler und grundſätzlicher Zuſtand,
wie die Despotie, ſondern vielmehr immer die Verletzung eines
ſolchen. Dem tyranniſch Behandelten ſtehen Geſetze und Rechte
zu, allein ſie werden thatſächlich verletzt; während in der Des-
potie gar kein Geſetz und kein Recht beſteht, als das des Herr-
ſchers. Tyranniſche Regierung kann bei ungünſtiger Geſtaltung
der Verhältniſſe und bei rechtswidrigem Willen einflußreicher
Perſonen in jeder Staatsgattung und Staatsform vorübergehend
vorkommen, ſelbſt in der Demokratie; die Despotie iſt eine be-
ſtimmte Form des ſtaatlichen Daſeins. Ein Despot kann un-
zweifelhaft in jedem Augenblicke herb und ungerecht und ſomit
tyranniſch handeln, allein es iſt auch ein gerechtes und ſelbſt
mildes Verfahren von ſeiner Seite möglich, ohne daß deßhalb
das Weſen ſeiner Stellung und der Staatsart ſich änderte 1).

Despotieen haben, laut Ausweis der Geſchichte, zu allen
Zeiten beſtanden; und faſt ſcheint es ſogar, als ob dieſe, einem
geſittigten Volke allerdings unbegreifliche und unerträgliche,
Staatsart gewiſſen Himmelsſtrichen und Menſchenracen an-
gemeſſen ſei. In andern Fällen iſt ſittlich ganz zu Grunde
gerichteten oder von Barbaren unterjochten Völkern ein ſolcher
Zuſtand auferlegt worden 2). Wie dem nun aber auch ſein
mag, und wie immer ſich die Erſcheinung erklären läßt: jeden
Falles fordert eine vollſtändige wiſſenſchaftliche Behandlung des
Staates die Erörterung auch dieſer Gattung deſſelben; und un-
zweifelhaft haben nicht nur die geſchichtlichen Disciplinen den
Beſtand und die Entwicklung der Thatſachen darzulegen, ſondern
auch die dogmatiſchen Wiſſenſchaften das Weſen der beſondern
Geſtaltung zu erörtern und die daraus ſich ergebenden Schluß-

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[371/0385] Der Despot dagegen hat grundſätzlich für keinen Lebenszweck des Volkes zu ſorgen; ſein augenblicklicher Wille iſt für ihn und für Andere der einzige Gegenſtand des organiſirten Zu- ſammenlebens. — Tyrannei dagegen iſt jede ungerechte Gewalt- ausübung. Sie iſt kein normaler und grundſätzlicher Zuſtand, wie die Despotie, ſondern vielmehr immer die Verletzung eines ſolchen. Dem tyranniſch Behandelten ſtehen Geſetze und Rechte zu, allein ſie werden thatſächlich verletzt; während in der Des- potie gar kein Geſetz und kein Recht beſteht, als das des Herr- ſchers. Tyranniſche Regierung kann bei ungünſtiger Geſtaltung der Verhältniſſe und bei rechtswidrigem Willen einflußreicher Perſonen in jeder Staatsgattung und Staatsform vorübergehend vorkommen, ſelbſt in der Demokratie; die Despotie iſt eine be- ſtimmte Form des ſtaatlichen Daſeins. Ein Despot kann un- zweifelhaft in jedem Augenblicke herb und ungerecht und ſomit tyranniſch handeln, allein es iſt auch ein gerechtes und ſelbſt mildes Verfahren von ſeiner Seite möglich, ohne daß deßhalb das Weſen ſeiner Stellung und der Staatsart ſich änderte 1). Despotieen haben, laut Ausweis der Geſchichte, zu allen Zeiten beſtanden; und faſt ſcheint es ſogar, als ob dieſe, einem geſittigten Volke allerdings unbegreifliche und unerträgliche, Staatsart gewiſſen Himmelsſtrichen und Menſchenracen an- gemeſſen ſei. In andern Fällen iſt ſittlich ganz zu Grunde gerichteten oder von Barbaren unterjochten Völkern ein ſolcher Zuſtand auferlegt worden 2). Wie dem nun aber auch ſein mag, und wie immer ſich die Erſcheinung erklären läßt: jeden Falles fordert eine vollſtändige wiſſenſchaftliche Behandlung des Staates die Erörterung auch dieſer Gattung deſſelben; und un- zweifelhaft haben nicht nur die geſchichtlichen Disciplinen den Beſtand und die Entwicklung der Thatſachen darzulegen, ſondern auch die dogmatiſchen Wiſſenſchaften das Weſen der beſondern Geſtaltung zu erörtern und die daraus ſich ergebenden Schluß- 24*

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/385>, abgerufen am 18.04.2024.