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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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1. Aus dem geschriebenen Rechte, d. h. aus den von
einer zuständigen gesetzgebenden Gewalt erlassenen und in ge-
höriger Weise bekannt gemachten Vorschriften. Wenn auch
nicht in allen Staaten, so doch in den meisten, und wenn nicht
immer mit derselben Bezeichnung, theilen sich die geschriebenen
Gesetze in die Kategorieen der Grund- oder Verfassungsgesetze,
der einfachen Gesetze, endlich der Verordnungen und Erlasse.
Man sehe über diese Eintheilung, ihre Bedeutung und ihre
Folgen oben, § 20, S. 138.

2. Aus dem Gewohnheitsrechte, d. h. denjenigen
Rechtssätzen, welche die Gesammtheit der Staatstheilnehmer,
oder auch wohl eine bestimmte Gattung derselben, als ver-
bindlich für sich anerkennen, obgleich dieselben nicht von
einer förmlich bestellten gesetzlichen Gewalt ausgegangen und
bekannt gemacht sind. Es ist also das allgemeine Rechtsbe-
wußtsein, bestätigt und nachgewiesen durch wirkliche Uebung,
welches den Grund der Verbindlichkeit enthält, und keinem Be-
theiligten gestattet, von der bestimmten Ansicht abzuweichen.
Auch im öffentlichen Rechte sind solche Rechtsgewohnheiten üb-
lich, und hier sogar vorzugsweise nothwendig, indem es nicht
zu allen Zeiten gelingt oder für räthlich erachtet wird, schrift-
liche Gesetze über staatsrechtliche Fragen zu erlassen, diese aber
doch einer festen Beantwortung bedürfen. Da nur bei Zustim-
mung aller Betheiligten ein Gewohnheitsrecht entsteht, so leuchet
ein, daß die Gültigkeit eines dem öffentlichen Rechte angehö-
rigen Satzes dieser Art durch die, ausdrückliche oder stillschwei-
gende, Zustimmung des Staatsoberhauptes bedingt ist. Wo
solche fehlt, ist das allgemeine Rechtsbewußtsein wesentlich mangel-
haft; und überdies würde, falls die Gewohnheit der Einwilli-
gung des Staatsoberhauptes entbehren könnte, dieses letztere
möglicherweise gegen seinen entschiedenen Willen zur Anerken-
nung und wohl selbst zur Ausführung von Grundsätzen und

1. Aus dem geſchriebenen Rechte, d. h. aus den von
einer zuſtändigen geſetzgebenden Gewalt erlaſſenen und in ge-
höriger Weiſe bekannt gemachten Vorſchriften. Wenn auch
nicht in allen Staaten, ſo doch in den meiſten, und wenn nicht
immer mit derſelben Bezeichnung, theilen ſich die geſchriebenen
Geſetze in die Kategorieen der Grund- oder Verfaſſungsgeſetze,
der einfachen Geſetze, endlich der Verordnungen und Erlaſſe.
Man ſehe über dieſe Eintheilung, ihre Bedeutung und ihre
Folgen oben, § 20, S. 138.

2. Aus dem Gewohnheitsrechte, d. h. denjenigen
Rechtsſätzen, welche die Geſammtheit der Staatstheilnehmer,
oder auch wohl eine beſtimmte Gattung derſelben, als ver-
bindlich für ſich anerkennen, obgleich dieſelben nicht von
einer förmlich beſtellten geſetzlichen Gewalt ausgegangen und
bekannt gemacht ſind. Es iſt alſo das allgemeine Rechtsbe-
wußtſein, beſtätigt und nachgewieſen durch wirkliche Uebung,
welches den Grund der Verbindlichkeit enthält, und keinem Be-
theiligten geſtattet, von der beſtimmten Anſicht abzuweichen.
Auch im öffentlichen Rechte ſind ſolche Rechtsgewohnheiten üb-
lich, und hier ſogar vorzugsweiſe nothwendig, indem es nicht
zu allen Zeiten gelingt oder für räthlich erachtet wird, ſchrift-
liche Geſetze über ſtaatsrechtliche Fragen zu erlaſſen, dieſe aber
doch einer feſten Beantwortung bedürfen. Da nur bei Zuſtim-
mung aller Betheiligten ein Gewohnheitsrecht entſteht, ſo leuchet
ein, daß die Gültigkeit eines dem öffentlichen Rechte angehö-
rigen Satzes dieſer Art durch die, ausdrückliche oder ſtillſchwei-
gende, Zuſtimmung des Staatsoberhauptes bedingt iſt. Wo
ſolche fehlt, iſt das allgemeine Rechtsbewußtſein weſentlich mangel-
haft; und überdies würde, falls die Gewohnheit der Einwilli-
gung des Staatsoberhauptes entbehren könnte, dieſes letztere
möglicherweiſe gegen ſeinen entſchiedenen Willen zur Anerken-
nung und wohl ſelbſt zur Ausführung von Grundſätzen und

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[389/0403] 1. Aus dem geſchriebenen Rechte, d. h. aus den von einer zuſtändigen geſetzgebenden Gewalt erlaſſenen und in ge- höriger Weiſe bekannt gemachten Vorſchriften. Wenn auch nicht in allen Staaten, ſo doch in den meiſten, und wenn nicht immer mit derſelben Bezeichnung, theilen ſich die geſchriebenen Geſetze in die Kategorieen der Grund- oder Verfaſſungsgeſetze, der einfachen Geſetze, endlich der Verordnungen und Erlaſſe. Man ſehe über dieſe Eintheilung, ihre Bedeutung und ihre Folgen oben, § 20, S. 138. 2. Aus dem Gewohnheitsrechte, d. h. denjenigen Rechtsſätzen, welche die Geſammtheit der Staatstheilnehmer, oder auch wohl eine beſtimmte Gattung derſelben, als ver- bindlich für ſich anerkennen, obgleich dieſelben nicht von einer förmlich beſtellten geſetzlichen Gewalt ausgegangen und bekannt gemacht ſind. Es iſt alſo das allgemeine Rechtsbe- wußtſein, beſtätigt und nachgewieſen durch wirkliche Uebung, welches den Grund der Verbindlichkeit enthält, und keinem Be- theiligten geſtattet, von der beſtimmten Anſicht abzuweichen. Auch im öffentlichen Rechte ſind ſolche Rechtsgewohnheiten üb- lich, und hier ſogar vorzugsweiſe nothwendig, indem es nicht zu allen Zeiten gelingt oder für räthlich erachtet wird, ſchrift- liche Geſetze über ſtaatsrechtliche Fragen zu erlaſſen, dieſe aber doch einer feſten Beantwortung bedürfen. Da nur bei Zuſtim- mung aller Betheiligten ein Gewohnheitsrecht entſteht, ſo leuchet ein, daß die Gültigkeit eines dem öffentlichen Rechte angehö- rigen Satzes dieſer Art durch die, ausdrückliche oder ſtillſchwei- gende, Zuſtimmung des Staatsoberhauptes bedingt iſt. Wo ſolche fehlt, iſt das allgemeine Rechtsbewußtſein weſentlich mangel- haft; und überdies würde, falls die Gewohnheit der Einwilli- gung des Staatsoberhauptes entbehren könnte, dieſes letztere möglicherweiſe gegen ſeinen entſchiedenen Willen zur Anerken- nung und wohl ſelbſt zur Ausführung von Grundſätzen und

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/403>, abgerufen am 28.03.2024.