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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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Das letzte Ziel der Verkehrsordnung unter den Staaten bleibt
immer ein ungestörtes Rechtsverhältniß, mit anderen Worten
der ewige Frieden.

Wenn denn aber unzweifelhaft die einzige richtige Systematik
einer Wissenschaft diejenige Eintheilung und Reihenfolge des
Stoffes ist, welche aus dem Wesen der Sache selbst und aus
der zu erfüllenden Aufgabe entspringt: so folgt auch, daß eine
zuerst getrennte Behandlung dann aber schließliche Verbindung
der drei bisher besprochenen obersten Grundsätze die formelle
Ordnung des Völkerrechtes zu bilden hat 3).

1) Ein Zwang gegen Dritte, das diesseitig für ersprießlich und richtig
Erachtete ebenfalls anzuerkennen und auszuüben, mag sich vielleicht in kirch-
lichen Dingen vertheidigen lassen, jedoch selbst hier nur unter gewissen reli-
giösen Voraussetzungen, welche keineswegs von Jedermann zugegeben wer-
den; unter keiner Voraussetzung aber im staatlichen und rechtlichen Leben.
So lange die eigene freie Lebensentwickelung von Fremden nicht gehemmt
oder bedroht ist, haben wir kein Recht, ihnen unsere Lebensauffassung auf-
zudringen. -- Ebenso ist die Kleinheit eines Staatsvereines kein Grund zu
einer Verminderung seiner Selbstständigkeit. Falls er und seine Angehö-
rigen mit schwachen Mitteln zur Erreichung der Staatszwecke zufrieden sind,
ist die Bedingung eines eigenen staatlichen Daseins erfüllt, und steht die
Souverainetät auch einer solchen kleinen Verbindung rechtlich fest.
2) Die Verpflichtung zur Unterhaltung und Gestattung eines geord-
neten Verkehres zu erlaubten Zwecken ist weder in der Auffassung des Völ-
kerrechtes von Hugo Grotius, noch in der von Kant enthalten. Höchstens
bricht das dunkle Gefühl einer solchen Nothwendigkeit durch den atomistischen
Egoismus, welcher die Souverainetät als die einzige rechtliche Grundlage
der Völkerverhältnisse kennt, unwillkürlich und folgewidrig durch, wie z. B.
bei der Forderung des passagium innoxium. Erst mit der Anerkennung
einer allgemeinen Verkehrsberechtigung und Verpflichtung wird nun aber
wirklich das Völkerrecht zu einem Beförderungsmittel der Menschheitsaufgabe,
und verliert sich der letzte Rest des Barbarenthumes, welches nur den eigenen
Staat und höchstens die Stammesgenossen als berechtigt erkannte, und ein
commercium mit denselben zuließ. Nur eine freie Anerkennung des Grund-
satzes aber macht auch eine Ausbildung desselben in allen seinen Folgerungen
möglich, und bringt dadurch endlich Ordnung und rechtswissenschaftliche Schärfe
in eine ganze Anzahl von Lehren, welche bisher nur einem unbestimmten
Gefühle oder einer grundsatzlosen Gewohnheit anheimgefallen waren. Es ist
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Das letzte Ziel der Verkehrsordnung unter den Staaten bleibt
immer ein ungeſtörtes Rechtsverhältniß, mit anderen Worten
der ewige Frieden.

Wenn denn aber unzweifelhaft die einzige richtige Syſtematik
einer Wiſſenſchaft diejenige Eintheilung und Reihenfolge des
Stoffes iſt, welche aus dem Weſen der Sache ſelbſt und aus
der zu erfüllenden Aufgabe entſpringt: ſo folgt auch, daß eine
zuerſt getrennte Behandlung dann aber ſchließliche Verbindung
der drei bisher beſprochenen oberſten Grundſätze die formelle
Ordnung des Völkerrechtes zu bilden hat 3).

1) Ein Zwang gegen Dritte, das dieſſeitig für erſprießlich und richtig
Erachtete ebenfalls anzuerkennen und auszuüben, mag ſich vielleicht in kirch-
lichen Dingen vertheidigen laſſen, jedoch ſelbſt hier nur unter gewiſſen reli-
giöſen Vorausſetzungen, welche keineswegs von Jedermann zugegeben wer-
den; unter keiner Vorausſetzung aber im ſtaatlichen und rechtlichen Leben.
So lange die eigene freie Lebensentwickelung von Fremden nicht gehemmt
oder bedroht iſt, haben wir kein Recht, ihnen unſere Lebensauffaſſung auf-
zudringen. — Ebenſo iſt die Kleinheit eines Staatsvereines kein Grund zu
einer Verminderung ſeiner Selbſtſtändigkeit. Falls er und ſeine Angehö-
rigen mit ſchwachen Mitteln zur Erreichung der Staatszwecke zufrieden ſind,
iſt die Bedingung eines eigenen ſtaatlichen Daſeins erfüllt, und ſteht die
Souverainetät auch einer ſolchen kleinen Verbindung rechtlich feſt.
2) Die Verpflichtung zur Unterhaltung und Geſtattung eines geord-
neten Verkehres zu erlaubten Zwecken iſt weder in der Auffaſſung des Völ-
kerrechtes von Hugo Grotius, noch in der von Kant enthalten. Höchſtens
bricht das dunkle Gefühl einer ſolchen Nothwendigkeit durch den atomiſtiſchen
Egoismus, welcher die Souverainetät als die einzige rechtliche Grundlage
der Völkerverhältniſſe kennt, unwillkürlich und folgewidrig durch, wie z. B.
bei der Forderung des passagium innoxium. Erſt mit der Anerkennung
einer allgemeinen Verkehrsberechtigung und Verpflichtung wird nun aber
wirklich das Völkerrecht zu einem Beförderungsmittel der Menſchheitsaufgabe,
und verliert ſich der letzte Reſt des Barbarenthumes, welches nur den eigenen
Staat und höchſtens die Stammesgenoſſen als berechtigt erkannte, und ein
commercium mit denſelben zuließ. Nur eine freie Anerkennung des Grund-
ſatzes aber macht auch eine Ausbildung deſſelben in allen ſeinen Folgerungen
möglich, und bringt dadurch endlich Ordnung und rechtswiſſenſchaftliche Schärfe
in eine ganze Anzahl von Lehren, welche bisher nur einem unbeſtimmten
Gefühle oder einer grundſatzloſen Gewohnheit anheimgefallen waren. Es iſt
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[419/0433] Das letzte Ziel der Verkehrsordnung unter den Staaten bleibt immer ein ungeſtörtes Rechtsverhältniß, mit anderen Worten der ewige Frieden. Wenn denn aber unzweifelhaft die einzige richtige Syſtematik einer Wiſſenſchaft diejenige Eintheilung und Reihenfolge des Stoffes iſt, welche aus dem Weſen der Sache ſelbſt und aus der zu erfüllenden Aufgabe entſpringt: ſo folgt auch, daß eine zuerſt getrennte Behandlung dann aber ſchließliche Verbindung der drei bisher beſprochenen oberſten Grundſätze die formelle Ordnung des Völkerrechtes zu bilden hat 3). ¹⁾ Ein Zwang gegen Dritte, das dieſſeitig für erſprießlich und richtig Erachtete ebenfalls anzuerkennen und auszuüben, mag ſich vielleicht in kirch- lichen Dingen vertheidigen laſſen, jedoch ſelbſt hier nur unter gewiſſen reli- giöſen Vorausſetzungen, welche keineswegs von Jedermann zugegeben wer- den; unter keiner Vorausſetzung aber im ſtaatlichen und rechtlichen Leben. So lange die eigene freie Lebensentwickelung von Fremden nicht gehemmt oder bedroht iſt, haben wir kein Recht, ihnen unſere Lebensauffaſſung auf- zudringen. — Ebenſo iſt die Kleinheit eines Staatsvereines kein Grund zu einer Verminderung ſeiner Selbſtſtändigkeit. Falls er und ſeine Angehö- rigen mit ſchwachen Mitteln zur Erreichung der Staatszwecke zufrieden ſind, iſt die Bedingung eines eigenen ſtaatlichen Daſeins erfüllt, und ſteht die Souverainetät auch einer ſolchen kleinen Verbindung rechtlich feſt. ²⁾ Die Verpflichtung zur Unterhaltung und Geſtattung eines geord- neten Verkehres zu erlaubten Zwecken iſt weder in der Auffaſſung des Völ- kerrechtes von Hugo Grotius, noch in der von Kant enthalten. Höchſtens bricht das dunkle Gefühl einer ſolchen Nothwendigkeit durch den atomiſtiſchen Egoismus, welcher die Souverainetät als die einzige rechtliche Grundlage der Völkerverhältniſſe kennt, unwillkürlich und folgewidrig durch, wie z. B. bei der Forderung des passagium innoxium. Erſt mit der Anerkennung einer allgemeinen Verkehrsberechtigung und Verpflichtung wird nun aber wirklich das Völkerrecht zu einem Beförderungsmittel der Menſchheitsaufgabe, und verliert ſich der letzte Reſt des Barbarenthumes, welches nur den eigenen Staat und höchſtens die Stammesgenoſſen als berechtigt erkannte, und ein commercium mit denſelben zuließ. Nur eine freie Anerkennung des Grund- ſatzes aber macht auch eine Ausbildung deſſelben in allen ſeinen Folgerungen möglich, und bringt dadurch endlich Ordnung und rechtswiſſenſchaftliche Schärfe in eine ganze Anzahl von Lehren, welche bisher nur einem unbeſtimmten Gefühle oder einer grundſatzloſen Gewohnheit anheimgefallen waren. Es iſt 27*

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/433>, abgerufen am 16.04.2024.