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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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4. Das Sittengesetz im innern Staatsleben.
§ 79.
a. Die sittliche Aufgabe der Verfassung.

Die Verfassung eines Staates ist weder eine Bewahranstalt
für Alterthümer noch ein Erziehungsmittel, sondern die Grund-
lage des Zusammenlebens, wie solches aus dem concreten Ge-
sittigungsstande des Volkes in der Gegenwart entspringt. Wenn
nun unzweifelhaft verschiedene Gesittigungsstufen der Völker
bestehen, so ist es eine Forderung der Vernunft, die Verfassung
der jemaligen thatsächlich erreichten Stufe anzupassen, und es
darf namentlich die Ansicht von der größern Vorzüglichkeit einer
andern Lebensanschauung nicht dazu verführen, die dieser letz-
teren entsprechenden Einrichtungen auch einem dazu nicht geeig-
neten Zustande aufzudrängen. Mit anderen Worten, es ist
nicht blos Forderung des Rechtes und der Klugheit, sondern
auch der reinen Sittlichkeit, nach der relativen und nicht nach
der absoluten Güte einer Verfassung zu streben 1).

Demgemäß sind vom sittlichen Standpunkte aus an die
Verfassung eines Staates nachstehende Forderungen zu stellen:

1. Dieselbe muß so eingerichtet sein, daß der gesammte
sittliche Inhalt des bestehenden Lebenszweckes sich im Staate
entwickeln kann und von demselben, soweit dies nöthig ist
unterstützt und gefördert wird. Ausnahmen zu Ungunsten
einzelner Volksklassen oder erlaubter Lebensrichtungen sind
unsittlich 2).

2. Unvernünftige einzelne Einrichtungen sind un-
erlaubt, theils an sich, theils weil sie die volle Entwickelung
des vernünftigen und also allein sittlichen Staatszweckes
stören 3).

3. Einräumungen von Rechten über das Bedürfniß
hinaus
, sei es daß allgemeine Staatszwecke sei es daß ein-

4. Das Sittengeſetz im innern Staatsleben.
§ 79.
a. Die ſittliche Aufgabe der Verfaſſung.

Die Verfaſſung eines Staates iſt weder eine Bewahranſtalt
für Alterthümer noch ein Erziehungsmittel, ſondern die Grund-
lage des Zuſammenlebens, wie ſolches aus dem concreten Ge-
ſittigungsſtande des Volkes in der Gegenwart entſpringt. Wenn
nun unzweifelhaft verſchiedene Geſittigungsſtufen der Völker
beſtehen, ſo iſt es eine Forderung der Vernunft, die Verfaſſung
der jemaligen thatſächlich erreichten Stufe anzupaſſen, und es
darf namentlich die Anſicht von der größern Vorzüglichkeit einer
andern Lebensanſchauung nicht dazu verführen, die dieſer letz-
teren entſprechenden Einrichtungen auch einem dazu nicht geeig-
neten Zuſtande aufzudrängen. Mit anderen Worten, es iſt
nicht blos Forderung des Rechtes und der Klugheit, ſondern
auch der reinen Sittlichkeit, nach der relativen und nicht nach
der abſoluten Güte einer Verfaſſung zu ſtreben 1).

Demgemäß ſind vom ſittlichen Standpunkte aus an die
Verfaſſung eines Staates nachſtehende Forderungen zu ſtellen:

1. Dieſelbe muß ſo eingerichtet ſein, daß der geſammte
ſittliche Inhalt des beſtehenden Lebenszweckes ſich im Staate
entwickeln kann und von demſelben, ſoweit dies nöthig iſt
unterſtützt und gefördert wird. Ausnahmen zu Ungunſten
einzelner Volksklaſſen oder erlaubter Lebensrichtungen ſind
unſittlich 2).

2. Unvernünftige einzelne Einrichtungen ſind un-
erlaubt, theils an ſich, theils weil ſie die volle Entwickelung
des vernünftigen und alſo allein ſittlichen Staatszweckes
ſtören 3).

3. Einräumungen von Rechten über das Bedürfniß
hinaus
, ſei es daß allgemeine Staatszwecke ſei es daß ein-

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[514/0528] 4. Das Sittengeſetz im innern Staatsleben. § 79. a. Die ſittliche Aufgabe der Verfaſſung. Die Verfaſſung eines Staates iſt weder eine Bewahranſtalt für Alterthümer noch ein Erziehungsmittel, ſondern die Grund- lage des Zuſammenlebens, wie ſolches aus dem concreten Ge- ſittigungsſtande des Volkes in der Gegenwart entſpringt. Wenn nun unzweifelhaft verſchiedene Geſittigungsſtufen der Völker beſtehen, ſo iſt es eine Forderung der Vernunft, die Verfaſſung der jemaligen thatſächlich erreichten Stufe anzupaſſen, und es darf namentlich die Anſicht von der größern Vorzüglichkeit einer andern Lebensanſchauung nicht dazu verführen, die dieſer letz- teren entſprechenden Einrichtungen auch einem dazu nicht geeig- neten Zuſtande aufzudrängen. Mit anderen Worten, es iſt nicht blos Forderung des Rechtes und der Klugheit, ſondern auch der reinen Sittlichkeit, nach der relativen und nicht nach der abſoluten Güte einer Verfaſſung zu ſtreben 1). Demgemäß ſind vom ſittlichen Standpunkte aus an die Verfaſſung eines Staates nachſtehende Forderungen zu ſtellen: 1. Dieſelbe muß ſo eingerichtet ſein, daß der geſammte ſittliche Inhalt des beſtehenden Lebenszweckes ſich im Staate entwickeln kann und von demſelben, ſoweit dies nöthig iſt unterſtützt und gefördert wird. Ausnahmen zu Ungunſten einzelner Volksklaſſen oder erlaubter Lebensrichtungen ſind unſittlich 2). 2. Unvernünftige einzelne Einrichtungen ſind un- erlaubt, theils an ſich, theils weil ſie die volle Entwickelung des vernünftigen und alſo allein ſittlichen Staatszweckes ſtören 3). 3. Einräumungen von Rechten über das Bedürfniß hinaus, ſei es daß allgemeine Staatszwecke ſei es daß ein-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/528>, abgerufen am 28.03.2024.