Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite
mit Gewalt einem Zustande der Dinge ein Ende zu machen, welcher eine
Erfüllung der menschlichen Lebenszwecke nicht gestattet. Selbstvertheidigung
ist nicht unsittlich; aber es muß Grund zu einer solchen sein. -- Ueber die,
allerdings bedingte, sittliche Berechtigung von Revolutionen vgl. Fichte,
Naturrecht, Werke, Bd. III, S. 182; Ammon, Christliche Sittenlehre,
Bd. III, 2, S. 91 fg.; Rothe, Bd. III, S. 982 fg. -- Andere sind
allerdings anderer Ansicht. So z. B. Marheineke, Theologische Moral,
S. 550; Hartenstein, Ethische Wissenschaften, S. 528 fg.
6) Man kann nicht bestimmt genug der namentlich von Thiers in
die Welt gebrachten Lehre entgegentreten, daß alle in einer Revolution be-
gangenen Verbrechen nur eine unvermeidliche Folge des ganzen Zustandes
und daher den Gesetzen der sittlichen Verantwortlichkeit nicht unterworfen
seien. Verkehrt ist es freilich, die Handlungen einer revolutionären Gewalt
nach offen ausgebrochenem Kampfe an den Maßstab einer Civilprozeßord-
nung zu halten; allein ein Mann, welcher im Aufstande gegen die bis-
herige Ordnung der Dinge begriffen ist, wird dadurch keineswegs berechtigt zu
selbstsüchtigen Schurkereien oder zur Grausamkeit. In allen Verhältnissen
steht der Mensch unter dem Gebote der Sittlichkeit.
§ 82.
d. Besondere sittliche Pflichten der mit Staatsgeschäften Betrauten.

Auch die dem Staatsoberhaupte untergeordneten
Organe
des Staatswillens haben die sittliche Pflicht, über
die erzwingbare rechtliche Verbindlichkeit hinaus Gutes für den
Staat zu wirken. Die gesetzliche oder vertragsmäßige Ver-
bindlichkeit ist ein Wenigstes was geleistet werden muß bei
Vermeidung von Vorwürfen und Strafe; wer aber weiter
leisten kann, ist dazu sittlich verpflichtet, weil der Mensch in
allen Verhältnissen so viel Gutes leisten soll, als er vermag.
Manche an sich sehr wichtige Leistung läßt sich auch gar nicht
als rechtliche Verbindlichkeit formuliren, weil sie auf inneren
und freiwilligen Entschlüssen beruht und somit nicht erzwungen
werden kann.

I. Sittliche Pflichten der Beamten.

Außer der Vollbringung aller vorgeschriebenen Arbeit in
bestimmter Menge und Güte, der Reinheit in Geldsachen, der

mit Gewalt einem Zuſtande der Dinge ein Ende zu machen, welcher eine
Erfüllung der menſchlichen Lebenszwecke nicht geſtattet. Selbſtvertheidigung
iſt nicht unſittlich; aber es muß Grund zu einer ſolchen ſein. — Ueber die,
allerdings bedingte, ſittliche Berechtigung von Revolutionen vgl. Fichte,
Naturrecht, Werke, Bd. III, S. 182; Ammon, Chriſtliche Sittenlehre,
Bd. III, 2, S. 91 fg.; Rothe, Bd. III, S. 982 fg. — Andere ſind
allerdings anderer Anſicht. So z. B. Marheineke, Theologiſche Moral,
S. 550; Hartenſtein, Ethiſche Wiſſenſchaften, S. 528 fg.
6) Man kann nicht beſtimmt genug der namentlich von Thiers in
die Welt gebrachten Lehre entgegentreten, daß alle in einer Revolution be-
gangenen Verbrechen nur eine unvermeidliche Folge des ganzen Zuſtandes
und daher den Geſetzen der ſittlichen Verantwortlichkeit nicht unterworfen
ſeien. Verkehrt iſt es freilich, die Handlungen einer revolutionären Gewalt
nach offen ausgebrochenem Kampfe an den Maßſtab einer Civilprozeßord-
nung zu halten; allein ein Mann, welcher im Aufſtande gegen die bis-
herige Ordnung der Dinge begriffen iſt, wird dadurch keineswegs berechtigt zu
ſelbſtſüchtigen Schurkereien oder zur Grauſamkeit. In allen Verhältniſſen
ſteht der Menſch unter dem Gebote der Sittlichkeit.
§ 82.
d. Beſondere ſittliche Pflichten der mit Staatsgeſchäften Betrauten.

Auch die dem Staatsoberhaupte untergeordneten
Organe
des Staatswillens haben die ſittliche Pflicht, über
die erzwingbare rechtliche Verbindlichkeit hinaus Gutes für den
Staat zu wirken. Die geſetzliche oder vertragsmäßige Ver-
bindlichkeit iſt ein Wenigſtes was geleiſtet werden muß bei
Vermeidung von Vorwürfen und Strafe; wer aber weiter
leiſten kann, iſt dazu ſittlich verpflichtet, weil der Menſch in
allen Verhältniſſen ſo viel Gutes leiſten ſoll, als er vermag.
Manche an ſich ſehr wichtige Leiſtung läßt ſich auch gar nicht
als rechtliche Verbindlichkeit formuliren, weil ſie auf inneren
und freiwilligen Entſchlüſſen beruht und ſomit nicht erzwungen
werden kann.

I. Sittliche Pflichten der Beamten.

Außer der Vollbringung aller vorgeſchriebenen Arbeit in
beſtimmter Menge und Güte, der Reinheit in Geldſachen, der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <note place="end" n="5)"><pb facs="#f0544" n="530"/>
mit Gewalt einem Zu&#x017F;tande der Dinge ein Ende zu machen, welcher eine<lb/>
Erfüllung der men&#x017F;chlichen Lebenszwecke nicht ge&#x017F;tattet. Selb&#x017F;tvertheidigung<lb/>
i&#x017F;t nicht un&#x017F;ittlich; aber es muß Grund zu einer &#x017F;olchen &#x017F;ein. &#x2014; Ueber die,<lb/>
allerdings bedingte, &#x017F;ittliche Berechtigung von Revolutionen vgl. <hi rendition="#g">Fichte</hi>,<lb/>
Naturrecht, Werke, Bd. <hi rendition="#aq">III,</hi> S. 182; <hi rendition="#g">Ammon</hi>, Chri&#x017F;tliche Sittenlehre,<lb/>
Bd. <hi rendition="#aq">III,</hi> 2, S. 91 fg.; <hi rendition="#g">Rothe</hi>, Bd. <hi rendition="#aq">III,</hi> S. 982 fg. &#x2014; Andere &#x017F;ind<lb/>
allerdings anderer An&#x017F;icht. So z. B. <hi rendition="#g">Marheineke</hi>, Theologi&#x017F;che Moral,<lb/>
S. 550; <hi rendition="#g">Harten&#x017F;tein</hi>, Ethi&#x017F;che Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, S. 528 fg.</note><lb/>
              <note place="end" n="6)">Man kann nicht be&#x017F;timmt genug der namentlich von <hi rendition="#g">Thiers</hi> in<lb/>
die Welt gebrachten Lehre entgegentreten, daß alle in einer Revolution be-<lb/>
gangenen Verbrechen nur eine unvermeidliche Folge des ganzen Zu&#x017F;tandes<lb/>
und daher den Ge&#x017F;etzen der &#x017F;ittlichen Verantwortlichkeit nicht unterworfen<lb/>
&#x017F;eien. Verkehrt i&#x017F;t es freilich, die Handlungen einer revolutionären Gewalt<lb/>
nach offen ausgebrochenem Kampfe an den Maß&#x017F;tab einer Civilprozeßord-<lb/>
nung zu halten; allein ein Mann, welcher im Auf&#x017F;tande gegen die bis-<lb/>
herige Ordnung der Dinge begriffen i&#x017F;t, wird dadurch keineswegs berechtigt zu<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;üchtigen Schurkereien oder zur Grau&#x017F;amkeit. In allen Verhältni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;teht der Men&#x017F;ch unter dem Gebote der Sittlichkeit.</note>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§ 82.<lb/><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">d.</hi> Be&#x017F;ondere &#x017F;ittliche Pflichten der mit Staatsge&#x017F;chäften Betrauten.</hi></head><lb/>
              <p>Auch die dem Staatsoberhaupte <hi rendition="#g">untergeordneten<lb/>
Organe</hi> des Staatswillens haben die &#x017F;ittliche Pflicht, über<lb/>
die erzwingbare rechtliche Verbindlichkeit hinaus Gutes für den<lb/>
Staat zu wirken. Die ge&#x017F;etzliche oder vertragsmäßige Ver-<lb/>
bindlichkeit i&#x017F;t ein Wenig&#x017F;tes was gelei&#x017F;tet werden muß bei<lb/>
Vermeidung von Vorwürfen und Strafe; wer aber weiter<lb/>
lei&#x017F;ten kann, i&#x017F;t dazu &#x017F;ittlich verpflichtet, weil der Men&#x017F;ch in<lb/>
allen Verhältni&#x017F;&#x017F;en &#x017F;o viel Gutes lei&#x017F;ten &#x017F;oll, als er vermag.<lb/>
Manche an &#x017F;ich &#x017F;ehr wichtige Lei&#x017F;tung läßt &#x017F;ich auch gar nicht<lb/>
als rechtliche Verbindlichkeit formuliren, weil &#x017F;ie auf inneren<lb/>
und freiwilligen Ent&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;en beruht und &#x017F;omit nicht erzwungen<lb/>
werden kann.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#aq">I.</hi> Sittliche Pflichten der <hi rendition="#g">Beamten</hi>.</p><lb/>
              <p>Außer der Vollbringung aller vorge&#x017F;chriebenen Arbeit in<lb/>
be&#x017F;timmter Menge und Güte, der Reinheit in Geld&#x017F;achen, der<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[530/0544] ⁵⁾ mit Gewalt einem Zuſtande der Dinge ein Ende zu machen, welcher eine Erfüllung der menſchlichen Lebenszwecke nicht geſtattet. Selbſtvertheidigung iſt nicht unſittlich; aber es muß Grund zu einer ſolchen ſein. — Ueber die, allerdings bedingte, ſittliche Berechtigung von Revolutionen vgl. Fichte, Naturrecht, Werke, Bd. III, S. 182; Ammon, Chriſtliche Sittenlehre, Bd. III, 2, S. 91 fg.; Rothe, Bd. III, S. 982 fg. — Andere ſind allerdings anderer Anſicht. So z. B. Marheineke, Theologiſche Moral, S. 550; Hartenſtein, Ethiſche Wiſſenſchaften, S. 528 fg. ⁶⁾ Man kann nicht beſtimmt genug der namentlich von Thiers in die Welt gebrachten Lehre entgegentreten, daß alle in einer Revolution be- gangenen Verbrechen nur eine unvermeidliche Folge des ganzen Zuſtandes und daher den Geſetzen der ſittlichen Verantwortlichkeit nicht unterworfen ſeien. Verkehrt iſt es freilich, die Handlungen einer revolutionären Gewalt nach offen ausgebrochenem Kampfe an den Maßſtab einer Civilprozeßord- nung zu halten; allein ein Mann, welcher im Aufſtande gegen die bis- herige Ordnung der Dinge begriffen iſt, wird dadurch keineswegs berechtigt zu ſelbſtſüchtigen Schurkereien oder zur Grauſamkeit. In allen Verhältniſſen ſteht der Menſch unter dem Gebote der Sittlichkeit. § 82. d. Beſondere ſittliche Pflichten der mit Staatsgeſchäften Betrauten. Auch die dem Staatsoberhaupte untergeordneten Organe des Staatswillens haben die ſittliche Pflicht, über die erzwingbare rechtliche Verbindlichkeit hinaus Gutes für den Staat zu wirken. Die geſetzliche oder vertragsmäßige Ver- bindlichkeit iſt ein Wenigſtes was geleiſtet werden muß bei Vermeidung von Vorwürfen und Strafe; wer aber weiter leiſten kann, iſt dazu ſittlich verpflichtet, weil der Menſch in allen Verhältniſſen ſo viel Gutes leiſten ſoll, als er vermag. Manche an ſich ſehr wichtige Leiſtung läßt ſich auch gar nicht als rechtliche Verbindlichkeit formuliren, weil ſie auf inneren und freiwilligen Entſchlüſſen beruht und ſomit nicht erzwungen werden kann. I. Sittliche Pflichten der Beamten. Außer der Vollbringung aller vorgeſchriebenen Arbeit in beſtimmter Menge und Güte, der Reinheit in Geldſachen, der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/544
Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/544>, abgerufen am 25.04.2024.