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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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So hält z. B. in mehr als Einem Lande nur die übergroße Zahl der,
außerdem noch gewöhnlich ganz nutzlosen, regelmäßigen Berichte tüchtige
Bauern ab, die Stelle eines Gemeindevorstehers anzunehmen, welche dann
nur zu oft in die Hände verkommener Schreiber fällt, zum gleich großen
Schaden des Staates und der Gemeinde. Wenn in England die Friedens-
richter viele Berichte zu machen hätten, würden sich die jetzigen Inhaber
dieser wichtigen Stellen wohl nicht dazu drängen.
2) Vgl. hierüber oben, § 80, Anmerkung 4.
3) Ueber die Wirkungen einer geheimen Polizei ist nicht nur in jedem
Lande, welches eine solche besitzt, leicht Erkundigung einzuziehen; sondern
es gestehen selbst Solche, welche an der Spitze solcher Einrichtungen standen,
manche Nachtheile unumwunden ein. Man sehe nur z. B. die Denkwürdig-
keiten von Bourienne, Rovigo und Gisquet. Von der unbeschreib-
lichen Nichtigkeit und Niederträchtigkeit des Treibens und der Nachrichten
politischer geheimer Polizeien zeugen am besten die gelegentlich veröffent-
lichten Mittheilungen aus ihren Papieren, so namentlich die sogenannten
schwarzen Bücher, welche 1829 in Paris und 1855 in Dresden erschienen.
-- An einer systematischen und ausführlichen Darstellung der ganzen Ein-
richtung, ihrer Mittel und des Aufwandes für sie gebricht es bis jetzt noch.
Ausführlich zwar, aber nicht sehr zuverlässig, sind die Mittheilungen in
Vidocq's Denkwürdigkeiten.
4) Es beweist gar geringe staatliche Einsicht, wenn die Tagespresse so
häufig auf die Ertheilung von Amnestieen bei Gelegenheit irgend eines er-
freulichen Ereignisses in der regierenden Familie hinzuwirken sucht. Richtige
Staatsweisheit ist, die gesammte Rechtspflege in allen ihren Beziehungen
von den persönlichen Gefühlen und Interessen des Staatsoberhauptes ferne
zu halten. Und überhaupt, was hat die Frage, ob eine gerichtlich erkannte
Strafe gemildert werden könne, gemein mit einer Hochzeit oder einer Kind-
taufe?
5) Die gewöhnlich von der Staatskunst, und zwar im Leben sowohl
als in der Wissenschaft gänzlich vernachlässigte Lehre von den öffentlichen
Belohnungen ist vortrefflich bearbeitet in J. Bentham's Theorie des
peines et des recompenses
. -- Eine höchst merkwürdige Erscheinung,
welche, wenn sie einst verschwunden ist, kaum begreiflich sein dürfte, ist die
fast in sämmtlichen europäischen Staaten seit dem Beginne des 19. Jahr-
hunderts eingetretene Ausartung des Ordenswesens. Es findet hier eine
Vermengung von Auszeichnung wirklicher Verdienste, äußerlicher Andeutung
hohen Standes, wunderlicher gegenseitiger Höflichkeit, endlich berechnender
Sparsamkeit bei Gastgeschenken statt. Daß es sich dabei nur von einer
kleinen Zierrath und einem Stückchen seidenen Bandes handelt, ändert nichts
an der Sache. Wenn und so lange die europäische Sitte diese an sich fast
So hält z. B. in mehr als Einem Lande nur die übergroße Zahl der,
außerdem noch gewöhnlich ganz nutzloſen, regelmäßigen Berichte tüchtige
Bauern ab, die Stelle eines Gemeindevorſtehers anzunehmen, welche dann
nur zu oft in die Hände verkommener Schreiber fällt, zum gleich großen
Schaden des Staates und der Gemeinde. Wenn in England die Friedens-
richter viele Berichte zu machen hätten, würden ſich die jetzigen Inhaber
dieſer wichtigen Stellen wohl nicht dazu drängen.
2) Vgl. hierüber oben, § 80, Anmerkung 4.
3) Ueber die Wirkungen einer geheimen Polizei iſt nicht nur in jedem
Lande, welches eine ſolche beſitzt, leicht Erkundigung einzuziehen; ſondern
es geſtehen ſelbſt Solche, welche an der Spitze ſolcher Einrichtungen ſtanden,
manche Nachtheile unumwunden ein. Man ſehe nur z. B. die Denkwürdig-
keiten von Bourienne, Rovigo und Gisquet. Von der unbeſchreib-
lichen Nichtigkeit und Niederträchtigkeit des Treibens und der Nachrichten
politiſcher geheimer Polizeien zeugen am beſten die gelegentlich veröffent-
lichten Mittheilungen aus ihren Papieren, ſo namentlich die ſogenannten
ſchwarzen Bücher, welche 1829 in Paris und 1855 in Dresden erſchienen.
— An einer ſyſtematiſchen und ausführlichen Darſtellung der ganzen Ein-
richtung, ihrer Mittel und des Aufwandes für ſie gebricht es bis jetzt noch.
Ausführlich zwar, aber nicht ſehr zuverläſſig, ſind die Mittheilungen in
Vidocq’s Denkwürdigkeiten.
4) Es beweiſt gar geringe ſtaatliche Einſicht, wenn die Tagespreſſe ſo
häufig auf die Ertheilung von Amneſtieen bei Gelegenheit irgend eines er-
freulichen Ereigniſſes in der regierenden Familie hinzuwirken ſucht. Richtige
Staatsweisheit iſt, die geſammte Rechtspflege in allen ihren Beziehungen
von den perſönlichen Gefühlen und Intereſſen des Staatsoberhauptes ferne
zu halten. Und überhaupt, was hat die Frage, ob eine gerichtlich erkannte
Strafe gemildert werden könne, gemein mit einer Hochzeit oder einer Kind-
taufe?
5) Die gewöhnlich von der Staatskunſt, und zwar im Leben ſowohl
als in der Wiſſenſchaft gänzlich vernachläſſigte Lehre von den öffentlichen
Belohnungen iſt vortrefflich bearbeitet in J. Bentham’s Théorie des
peines et des recompenses
. — Eine höchſt merkwürdige Erſcheinung,
welche, wenn ſie einſt verſchwunden iſt, kaum begreiflich ſein dürfte, iſt die
faſt in ſämmtlichen europäiſchen Staaten ſeit dem Beginne des 19. Jahr-
hunderts eingetretene Ausartung des Ordensweſens. Es findet hier eine
Vermengung von Auszeichnung wirklicher Verdienſte, äußerlicher Andeutung
hohen Standes, wunderlicher gegenſeitiger Höflichkeit, endlich berechnender
Sparſamkeit bei Gaſtgeſchenken ſtatt. Daß es ſich dabei nur von einer
kleinen Zierrath und einem Stückchen ſeidenen Bandes handelt, ändert nichts
an der Sache. Wenn und ſo lange die europäiſche Sitte dieſe an ſich faſt
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[634/0648] ¹⁾ So hält z. B. in mehr als Einem Lande nur die übergroße Zahl der, außerdem noch gewöhnlich ganz nutzloſen, regelmäßigen Berichte tüchtige Bauern ab, die Stelle eines Gemeindevorſtehers anzunehmen, welche dann nur zu oft in die Hände verkommener Schreiber fällt, zum gleich großen Schaden des Staates und der Gemeinde. Wenn in England die Friedens- richter viele Berichte zu machen hätten, würden ſich die jetzigen Inhaber dieſer wichtigen Stellen wohl nicht dazu drängen. ²⁾ Vgl. hierüber oben, § 80, Anmerkung 4. ³⁾ Ueber die Wirkungen einer geheimen Polizei iſt nicht nur in jedem Lande, welches eine ſolche beſitzt, leicht Erkundigung einzuziehen; ſondern es geſtehen ſelbſt Solche, welche an der Spitze ſolcher Einrichtungen ſtanden, manche Nachtheile unumwunden ein. Man ſehe nur z. B. die Denkwürdig- keiten von Bourienne, Rovigo und Gisquet. Von der unbeſchreib- lichen Nichtigkeit und Niederträchtigkeit des Treibens und der Nachrichten politiſcher geheimer Polizeien zeugen am beſten die gelegentlich veröffent- lichten Mittheilungen aus ihren Papieren, ſo namentlich die ſogenannten ſchwarzen Bücher, welche 1829 in Paris und 1855 in Dresden erſchienen. — An einer ſyſtematiſchen und ausführlichen Darſtellung der ganzen Ein- richtung, ihrer Mittel und des Aufwandes für ſie gebricht es bis jetzt noch. Ausführlich zwar, aber nicht ſehr zuverläſſig, ſind die Mittheilungen in Vidocq’s Denkwürdigkeiten. ⁴⁾ Es beweiſt gar geringe ſtaatliche Einſicht, wenn die Tagespreſſe ſo häufig auf die Ertheilung von Amneſtieen bei Gelegenheit irgend eines er- freulichen Ereigniſſes in der regierenden Familie hinzuwirken ſucht. Richtige Staatsweisheit iſt, die geſammte Rechtspflege in allen ihren Beziehungen von den perſönlichen Gefühlen und Intereſſen des Staatsoberhauptes ferne zu halten. Und überhaupt, was hat die Frage, ob eine gerichtlich erkannte Strafe gemildert werden könne, gemein mit einer Hochzeit oder einer Kind- taufe? ⁵⁾ Die gewöhnlich von der Staatskunſt, und zwar im Leben ſowohl als in der Wiſſenſchaft gänzlich vernachläſſigte Lehre von den öffentlichen Belohnungen iſt vortrefflich bearbeitet in J. Bentham’s Théorie des peines et des recompenses. — Eine höchſt merkwürdige Erſcheinung, welche, wenn ſie einſt verſchwunden iſt, kaum begreiflich ſein dürfte, iſt die faſt in ſämmtlichen europäiſchen Staaten ſeit dem Beginne des 19. Jahr- hunderts eingetretene Ausartung des Ordensweſens. Es findet hier eine Vermengung von Auszeichnung wirklicher Verdienſte, äußerlicher Andeutung hohen Standes, wunderlicher gegenſeitiger Höflichkeit, endlich berechnender Sparſamkeit bei Gaſtgeſchenken ſtatt. Daß es ſich dabei nur von einer kleinen Zierrath und einem Stückchen ſeidenen Bandes handelt, ändert nichts an der Sache. Wenn und ſo lange die europäiſche Sitte dieſe an ſich faſt

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/648>, abgerufen am 28.03.2024.