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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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dehnung zugethan ist, als gerechtfertigt werden kann. Die seltene Behand-
lung einer so wichtigen Frage ist ebenso sehr zu tadeln als zu beklagen.
4) Unter den von den festländischen Ansichten ganz abweichenden Ein-
richtungen Englands ist kaum eine merkwürdiger, als daß hier auf eine
zahlreiche Besetzung der Gerichte gar kein Gewicht gelegt wird, vielmehr
der größte Theil derselben, und darunter die wichtigsten, nur mit einem
einzigen Richter besetzt sind. So ist der Lordkanzler, sind die Vicekanzler,
die Richter bei den Assisen, der Admiralitätsrichter u. s. w. Einzelrichter.
Man sucht hier die Sicherstellung einer tüchtigen Rechtspflege durch die Ge-
winnung der ersten Männer des ganzen Standes der Rechtsgelehrten zu
bewerkstelligen, und stellt daher diese nach Rang, Ansehen und Einkommen
sehr hoch, damit aber möglichst über Versuchung und Unterwürfigkeit; das
Uebrige wird sodann dem Pflichtgefühle und der Oeffentlichkeit überlassen.
Nichts ist ungewisser, als ob dieses kecke System zurückstehe gegen unsere
Auffassung, welche die Sicherung gegen Unfähigkeit und Verderbniß in col-
legialischer Besetzung sucht, bei welcher man denn aber natürlich sowohl zu
kleiner Bezahlung als zu Annahme von Mittelmäßigkeiten genöthigt ist.
5) Vgl. oben, S. 253 fg.
6) Die Reihenfolge ist in unserm neuzeitigen Staate fast ganz ver-
schwunden. Wohl mit Unrecht; vorausgesetzt, daß solche Dienstleistung auf
die rechte Art von Verwendung beschränkt ist. Die Nöthigung der Bürger
zum Geschwornen-Dienste beweist, daß ein der öffentlichen Meinung und
den Interessen des Einzelnen entsprechender Auftrag vortrefflich besorgt
werden kann. Je höher die staatliche Bildung eines Volkes steht und je
mehr es durch Erfahrung zu dem Bewußtsein kommt, daß die Regierung
das allgemeine Beste will und auch wirklich leidlich zuwege bringt, desto
mehr und desto höhere Geschäfte kann man dem Bürger reihenweise über-
tragen; freilich findet auch das Umgekehrte in gegentheiligen Verhältnissen
statt.
7) Die merkwürdigsten Beispiele von Zwangspflicht, nämlich Nöthigung
zu höheren Aemtern, geben England und Hamburg. Jenes, indem die
Bekleidung des Sherifamtes auch gegen den Willen und bei Vermeidung
einer schweren Geldbuße aufgetragen wird; dieses, indem sogar Theilnahme
an der Regierung des Staates, nämlich Annahme der Senatorwürde, er-
zwungen wird, und zwar bei der harten Strafe der Verbannung.
8) Ueber das System der freiwillig und unentgeltlich Dienenden bleibt
immer noch Vincke's Darstellung der innern Verwaltung Großbrittaniens
meisterhaft; nur sind vielleicht die Lichtseiten zu sehr hervorgehoben.
dehnung zugethan iſt, als gerechtfertigt werden kann. Die ſeltene Behand-
lung einer ſo wichtigen Frage iſt ebenſo ſehr zu tadeln als zu beklagen.
4) Unter den von den feſtländiſchen Anſichten ganz abweichenden Ein-
richtungen Englands iſt kaum eine merkwürdiger, als daß hier auf eine
zahlreiche Beſetzung der Gerichte gar kein Gewicht gelegt wird, vielmehr
der größte Theil derſelben, und darunter die wichtigſten, nur mit einem
einzigen Richter beſetzt ſind. So iſt der Lordkanzler, ſind die Vicekanzler,
die Richter bei den Aſſiſen, der Admiralitätsrichter u. ſ. w. Einzelrichter.
Man ſucht hier die Sicherſtellung einer tüchtigen Rechtspflege durch die Ge-
winnung der erſten Männer des ganzen Standes der Rechtsgelehrten zu
bewerkſtelligen, und ſtellt daher dieſe nach Rang, Anſehen und Einkommen
ſehr hoch, damit aber möglichſt über Verſuchung und Unterwürfigkeit; das
Uebrige wird ſodann dem Pflichtgefühle und der Oeffentlichkeit überlaſſen.
Nichts iſt ungewiſſer, als ob dieſes kecke Syſtem zurückſtehe gegen unſere
Auffaſſung, welche die Sicherung gegen Unfähigkeit und Verderbniß in col-
legialiſcher Beſetzung ſucht, bei welcher man denn aber natürlich ſowohl zu
kleiner Bezahlung als zu Annahme von Mittelmäßigkeiten genöthigt iſt.
5) Vgl. oben, S. 253 fg.
6) Die Reihenfolge iſt in unſerm neuzeitigen Staate faſt ganz ver-
ſchwunden. Wohl mit Unrecht; vorausgeſetzt, daß ſolche Dienſtleiſtung auf
die rechte Art von Verwendung beſchränkt iſt. Die Nöthigung der Bürger
zum Geſchwornen-Dienſte beweiſt, daß ein der öffentlichen Meinung und
den Intereſſen des Einzelnen entſprechender Auftrag vortrefflich beſorgt
werden kann. Je höher die ſtaatliche Bildung eines Volkes ſteht und je
mehr es durch Erfahrung zu dem Bewußtſein kommt, daß die Regierung
das allgemeine Beſte will und auch wirklich leidlich zuwege bringt, deſto
mehr und deſto höhere Geſchäfte kann man dem Bürger reihenweiſe über-
tragen; freilich findet auch das Umgekehrte in gegentheiligen Verhältniſſen
ſtatt.
7) Die merkwürdigſten Beiſpiele von Zwangspflicht, nämlich Nöthigung
zu höheren Aemtern, geben England und Hamburg. Jenes, indem die
Bekleidung des Sherifamtes auch gegen den Willen und bei Vermeidung
einer ſchweren Geldbuße aufgetragen wird; dieſes, indem ſogar Theilnahme
an der Regierung des Staates, nämlich Annahme der Senatorwürde, er-
zwungen wird, und zwar bei der harten Strafe der Verbannung.
8) Ueber das Syſtem der freiwillig und unentgeltlich Dienenden bleibt
immer noch Vincke’s Darſtellung der innern Verwaltung Großbrittaniens
meiſterhaft; nur ſind vielleicht die Lichtſeiten zu ſehr hervorgehoben.
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[655/0669] ³⁾ dehnung zugethan iſt, als gerechtfertigt werden kann. Die ſeltene Behand- lung einer ſo wichtigen Frage iſt ebenſo ſehr zu tadeln als zu beklagen. ⁴⁾ Unter den von den feſtländiſchen Anſichten ganz abweichenden Ein- richtungen Englands iſt kaum eine merkwürdiger, als daß hier auf eine zahlreiche Beſetzung der Gerichte gar kein Gewicht gelegt wird, vielmehr der größte Theil derſelben, und darunter die wichtigſten, nur mit einem einzigen Richter beſetzt ſind. So iſt der Lordkanzler, ſind die Vicekanzler, die Richter bei den Aſſiſen, der Admiralitätsrichter u. ſ. w. Einzelrichter. Man ſucht hier die Sicherſtellung einer tüchtigen Rechtspflege durch die Ge- winnung der erſten Männer des ganzen Standes der Rechtsgelehrten zu bewerkſtelligen, und ſtellt daher dieſe nach Rang, Anſehen und Einkommen ſehr hoch, damit aber möglichſt über Verſuchung und Unterwürfigkeit; das Uebrige wird ſodann dem Pflichtgefühle und der Oeffentlichkeit überlaſſen. Nichts iſt ungewiſſer, als ob dieſes kecke Syſtem zurückſtehe gegen unſere Auffaſſung, welche die Sicherung gegen Unfähigkeit und Verderbniß in col- legialiſcher Beſetzung ſucht, bei welcher man denn aber natürlich ſowohl zu kleiner Bezahlung als zu Annahme von Mittelmäßigkeiten genöthigt iſt. ⁵⁾ Vgl. oben, S. 253 fg. ⁶⁾ Die Reihenfolge iſt in unſerm neuzeitigen Staate faſt ganz ver- ſchwunden. Wohl mit Unrecht; vorausgeſetzt, daß ſolche Dienſtleiſtung auf die rechte Art von Verwendung beſchränkt iſt. Die Nöthigung der Bürger zum Geſchwornen-Dienſte beweiſt, daß ein der öffentlichen Meinung und den Intereſſen des Einzelnen entſprechender Auftrag vortrefflich beſorgt werden kann. Je höher die ſtaatliche Bildung eines Volkes ſteht und je mehr es durch Erfahrung zu dem Bewußtſein kommt, daß die Regierung das allgemeine Beſte will und auch wirklich leidlich zuwege bringt, deſto mehr und deſto höhere Geſchäfte kann man dem Bürger reihenweiſe über- tragen; freilich findet auch das Umgekehrte in gegentheiligen Verhältniſſen ſtatt. ⁷⁾ Die merkwürdigſten Beiſpiele von Zwangspflicht, nämlich Nöthigung zu höheren Aemtern, geben England und Hamburg. Jenes, indem die Bekleidung des Sherifamtes auch gegen den Willen und bei Vermeidung einer ſchweren Geldbuße aufgetragen wird; dieſes, indem ſogar Theilnahme an der Regierung des Staates, nämlich Annahme der Senatorwürde, er- zwungen wird, und zwar bei der harten Strafe der Verbannung. ⁸⁾ Ueber das Syſtem der freiwillig und unentgeltlich Dienenden bleibt immer noch Vincke’s Darſtellung der innern Verwaltung Großbrittaniens meiſterhaft; nur ſind vielleicht die Lichtſeiten zu ſehr hervorgehoben.

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/669>, abgerufen am 29.03.2024.