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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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hochwichtigen Beziehung seines geordneten Zusammenlebens
durchlaufen hat, und in welchen Zuständen demzufolge es sich
befindet. Diese Kenntniß gewährt den sichersten Schlüssel zum
Verständnisse des Zweckes des menschlichen Lebens und zur Ein-
sicht in den wahrscheinlichen weiteren Gang der Begebenheiten
und Zustände des ganzen Geschlechtes. Zu gleicher Zeit ist
sie für den, welcher Ursachen und Wirkungen zu erkennen und
sie zu verbinden weiß, eine eindringliche Belehrung über die
Bedeutung des Rechtes, der Sittlichkeit und der Klugheit, und
über deren verhältnißmäßige Kraft. Das Leben im Staate ist
allerdings nicht die einzige bedeutsame Seite des Daseins der
Menschen auf der Erde; aber es ist eine der wichtigsten, und
ohne seine vollständige Berücksichtigung ist an eine richtige
Beantwortung des Räthsels unseres Daseins nicht zu denken.

Dann aber dient, zweitens, Geschichte und Statistik für
den Theoretiker, sowohl zur Erweiterung und Vervollän-
digung seiner Anschauungen und Gedanken, als zur Prüfung
seiner Lehrsätze. -- Das wirkliche Leben ist immer weit reicher
als die thätigste Einbildungskraft oder das schärfste analytische
Denken. Die Thatsachen, welche die Geschichte oder die Er-
zählung bestehender Zustände kennen lehrt, fordern daher viel-
fach das Nachdenken über Fragen heraus, welche ohne jene
Kenntniß gar nicht aufgeworfen würden, und sie machen auf
Bedürfnisse und auf Gestaltungen des Zusammenlebens auf-
merksam, welche dem bloßen theoretischen Scharfsinn entgehen
würden, da er sich von einer Subjectivität doch niemals ganz
frei machen kann. Eine theoretische Staatswissenschaft, welche
nicht durch Benützung von Geschichte und Staatenkunde stofflich
vervollständigt worden ist, muß nothwendig immer eine unvoll-
kommene sein und kann die ganze Fülle der menschlichen Zu-
stände nicht umfassen. -- Allein eine ohne Berücksichtigung
der in die Erscheinung getretenen Zustände bearbeitete Wissen-

hochwichtigen Beziehung ſeines geordneten Zuſammenlebens
durchlaufen hat, und in welchen Zuſtänden demzufolge es ſich
befindet. Dieſe Kenntniß gewährt den ſicherſten Schlüſſel zum
Verſtändniſſe des Zweckes des menſchlichen Lebens und zur Ein-
ſicht in den wahrſcheinlichen weiteren Gang der Begebenheiten
und Zuſtände des ganzen Geſchlechtes. Zu gleicher Zeit iſt
ſie für den, welcher Urſachen und Wirkungen zu erkennen und
ſie zu verbinden weiß, eine eindringliche Belehrung über die
Bedeutung des Rechtes, der Sittlichkeit und der Klugheit, und
über deren verhältnißmäßige Kraft. Das Leben im Staate iſt
allerdings nicht die einzige bedeutſame Seite des Daſeins der
Menſchen auf der Erde; aber es iſt eine der wichtigſten, und
ohne ſeine vollſtändige Berückſichtigung iſt an eine richtige
Beantwortung des Räthſels unſeres Daſeins nicht zu denken.

Dann aber dient, zweitens, Geſchichte und Statiſtik für
den Theoretiker, ſowohl zur Erweiterung und Vervollän-
digung ſeiner Anſchauungen und Gedanken, als zur Prüfung
ſeiner Lehrſätze. — Das wirkliche Leben iſt immer weit reicher
als die thätigſte Einbildungskraft oder das ſchärfſte analytiſche
Denken. Die Thatſachen, welche die Geſchichte oder die Er-
zählung beſtehender Zuſtände kennen lehrt, fordern daher viel-
fach das Nachdenken über Fragen heraus, welche ohne jene
Kenntniß gar nicht aufgeworfen würden, und ſie machen auf
Bedürfniſſe und auf Geſtaltungen des Zuſammenlebens auf-
merkſam, welche dem bloßen theoretiſchen Scharfſinn entgehen
würden, da er ſich von einer Subjectivität doch niemals ganz
frei machen kann. Eine theoretiſche Staatswiſſenſchaft, welche
nicht durch Benützung von Geſchichte und Staatenkunde ſtofflich
vervollſtändigt worden iſt, muß nothwendig immer eine unvoll-
kommene ſein und kann die ganze Fülle der menſchlichen Zu-
ſtände nicht umfaſſen. — Allein eine ohne Berückſichtigung
der in die Erſcheinung getretenen Zuſtände bearbeitete Wiſſen-

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[712/0726] hochwichtigen Beziehung ſeines geordneten Zuſammenlebens durchlaufen hat, und in welchen Zuſtänden demzufolge es ſich befindet. Dieſe Kenntniß gewährt den ſicherſten Schlüſſel zum Verſtändniſſe des Zweckes des menſchlichen Lebens und zur Ein- ſicht in den wahrſcheinlichen weiteren Gang der Begebenheiten und Zuſtände des ganzen Geſchlechtes. Zu gleicher Zeit iſt ſie für den, welcher Urſachen und Wirkungen zu erkennen und ſie zu verbinden weiß, eine eindringliche Belehrung über die Bedeutung des Rechtes, der Sittlichkeit und der Klugheit, und über deren verhältnißmäßige Kraft. Das Leben im Staate iſt allerdings nicht die einzige bedeutſame Seite des Daſeins der Menſchen auf der Erde; aber es iſt eine der wichtigſten, und ohne ſeine vollſtändige Berückſichtigung iſt an eine richtige Beantwortung des Räthſels unſeres Daſeins nicht zu denken. Dann aber dient, zweitens, Geſchichte und Statiſtik für den Theoretiker, ſowohl zur Erweiterung und Vervollän- digung ſeiner Anſchauungen und Gedanken, als zur Prüfung ſeiner Lehrſätze. — Das wirkliche Leben iſt immer weit reicher als die thätigſte Einbildungskraft oder das ſchärfſte analytiſche Denken. Die Thatſachen, welche die Geſchichte oder die Er- zählung beſtehender Zuſtände kennen lehrt, fordern daher viel- fach das Nachdenken über Fragen heraus, welche ohne jene Kenntniß gar nicht aufgeworfen würden, und ſie machen auf Bedürfniſſe und auf Geſtaltungen des Zuſammenlebens auf- merkſam, welche dem bloßen theoretiſchen Scharfſinn entgehen würden, da er ſich von einer Subjectivität doch niemals ganz frei machen kann. Eine theoretiſche Staatswiſſenſchaft, welche nicht durch Benützung von Geſchichte und Staatenkunde ſtofflich vervollſtändigt worden iſt, muß nothwendig immer eine unvoll- kommene ſein und kann die ganze Fülle der menſchlichen Zu- ſtände nicht umfaſſen. — Allein eine ohne Berückſichtigung der in die Erſcheinung getretenen Zuſtände bearbeitete Wiſſen-

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/726>, abgerufen am 28.03.2024.