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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL XI.
zugleich unabhängige und nicht verschuldete Bauernwesen
und kaufmännischen Credit herzustellen, alles Scheineigen-
thum aber wie alle Wortlosigkeit mit unerbittlicher Energie zu
unterdrücken beabsichtigte. Nimmt man dazu das früh aner-
kannte Niederlassungsrecht sämmtlicher Latiner und die gleich-
falls früh ausgesprochene Gültigkeit der Civilehe, so wird man
erkennen, dass dieser Staat, der das Höchste von seinen
Bürgern verlangte und den Begriff der Unterthänigkeit des
Einzelnen steigerte wie keiner vor oder nach ihm, dies nur
that und nur thun konnte, weil er die Schranken des Ver-
kehrs selber niederwarf und die Freiheit ebenso sehr in
dieser Richtung entfesselte, wie er in jener sie beschränkte.
Ueberall steht neben der unbedingten Willkür die ungemes-
sene Strenge; wie der unvertretene Fremde dem gehetzten
Wild, so steht der Gast dem Bürger gleich; Eigenthum und
Forderung sind so allmächtig, dass dem Armen nirgends eine
Rettung, nirgends eine menschliche und billige Berücksich-
tigung sich zeigt; es ist als fände das Recht eine Freude
daran überall die schärfsten Spitzen zu bezeichnen, die äusser-
sten Consequenzen zu ziehen, das Tyrannische des Rechtsbe-
griffs gewaltsam dem blödesten Verstande aufzudrängen. Die
poetische Form, die gemüthliche Anschaulichkeit, die in den
germanischen Rechtsordnungen anmuthig walten, sind dem
Römer fremd; in seinem Recht ist alles klar und knapp, kein
Symbol angewandt, keine Institution zu viel. Es ist nicht
grausam; alles Nöthige wird vollzogen ohne Umstände, auch
die Todesstrafe; dass der Freie nicht gefoltert werden kann,
ist ein Ursatz des römischen Rechts, den zu gewinnen andre
Völker Jahrtausende haben ringen müssen. Aber es ist schreck-
lich, dies Recht mit seiner unerbittlichen Strenge, die man sich
nicht allzusehr gemildert denken darf durch eine humane
Praxis; denn es ist ja Volksrecht -- schrecklicher als die
Bleidächer und die Marterkammern jenes lebendige Begräbniss,
das der Arme in dem Schuldthurm jedes vermögenden Mannes
klaffen sah. Aber darin eben ist die Grösse Roms beschlossen
und begründet, dass das Volk solche Rechte sich selber gesetzt
und solches Recht ertragen hat, in dem die ewigen Grundsätze
der Freiheit und der Botmässigkeit, des Eigenthums und der
Rechtsfolge unverfälscht und ungemildert walteten und heute
noch walten.


ERSTES BUCH. KAPITEL XI.
zugleich unabhängige und nicht verschuldete Bauernwesen
und kaufmännischen Credit herzustellen, alles Scheineigen-
thum aber wie alle Wortlosigkeit mit unerbittlicher Energie zu
unterdrücken beabsichtigte. Nimmt man dazu das früh aner-
kannte Niederlassungsrecht sämmtlicher Latiner und die gleich-
falls früh ausgesprochene Gültigkeit der Civilehe, so wird man
erkennen, daſs dieser Staat, der das Höchste von seinen
Bürgern verlangte und den Begriff der Unterthänigkeit des
Einzelnen steigerte wie keiner vor oder nach ihm, dies nur
that und nur thun konnte, weil er die Schranken des Ver-
kehrs selber niederwarf und die Freiheit ebenso sehr in
dieser Richtung entfesselte, wie er in jener sie beschränkte.
Ueberall steht neben der unbedingten Willkür die ungemes-
sene Strenge; wie der unvertretene Fremde dem gehetzten
Wild, so steht der Gast dem Bürger gleich; Eigenthum und
Forderung sind so allmächtig, daſs dem Armen nirgends eine
Rettung, nirgends eine menschliche und billige Berücksich-
tigung sich zeigt; es ist als fände das Recht eine Freude
daran überall die schärfsten Spitzen zu bezeichnen, die äuſser-
sten Consequenzen zu ziehen, das Tyrannische des Rechtsbe-
griffs gewaltsam dem blödesten Verstande aufzudrängen. Die
poetische Form, die gemüthliche Anschaulichkeit, die in den
germanischen Rechtsordnungen anmuthig walten, sind dem
Römer fremd; in seinem Recht ist alles klar und knapp, kein
Symbol angewandt, keine Institution zu viel. Es ist nicht
grausam; alles Nöthige wird vollzogen ohne Umstände, auch
die Todesstrafe; daſs der Freie nicht gefoltert werden kann,
ist ein Ursatz des römischen Rechts, den zu gewinnen andre
Völker Jahrtausende haben ringen müssen. Aber es ist schreck-
lich, dies Recht mit seiner unerbittlichen Strenge, die man sich
nicht allzusehr gemildert denken darf durch eine humane
Praxis; denn es ist ja Volksrecht — schrecklicher als die
Bleidächer und die Marterkammern jenes lebendige Begräbniſs,
das der Arme in dem Schuldthurm jedes vermögenden Mannes
klaffen sah. Aber darin eben ist die Gröſse Roms beschlossen
und begründet, daſs das Volk solche Rechte sich selber gesetzt
und solches Recht ertragen hat, in dem die ewigen Grundsätze
der Freiheit und der Botmäſsigkeit, des Eigenthums und der
Rechtsfolge unverfälscht und ungemildert walteten und heute
noch walten.


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[110/0124] ERSTES BUCH. KAPITEL XI. zugleich unabhängige und nicht verschuldete Bauernwesen und kaufmännischen Credit herzustellen, alles Scheineigen- thum aber wie alle Wortlosigkeit mit unerbittlicher Energie zu unterdrücken beabsichtigte. Nimmt man dazu das früh aner- kannte Niederlassungsrecht sämmtlicher Latiner und die gleich- falls früh ausgesprochene Gültigkeit der Civilehe, so wird man erkennen, daſs dieser Staat, der das Höchste von seinen Bürgern verlangte und den Begriff der Unterthänigkeit des Einzelnen steigerte wie keiner vor oder nach ihm, dies nur that und nur thun konnte, weil er die Schranken des Ver- kehrs selber niederwarf und die Freiheit ebenso sehr in dieser Richtung entfesselte, wie er in jener sie beschränkte. Ueberall steht neben der unbedingten Willkür die ungemes- sene Strenge; wie der unvertretene Fremde dem gehetzten Wild, so steht der Gast dem Bürger gleich; Eigenthum und Forderung sind so allmächtig, daſs dem Armen nirgends eine Rettung, nirgends eine menschliche und billige Berücksich- tigung sich zeigt; es ist als fände das Recht eine Freude daran überall die schärfsten Spitzen zu bezeichnen, die äuſser- sten Consequenzen zu ziehen, das Tyrannische des Rechtsbe- griffs gewaltsam dem blödesten Verstande aufzudrängen. Die poetische Form, die gemüthliche Anschaulichkeit, die in den germanischen Rechtsordnungen anmuthig walten, sind dem Römer fremd; in seinem Recht ist alles klar und knapp, kein Symbol angewandt, keine Institution zu viel. Es ist nicht grausam; alles Nöthige wird vollzogen ohne Umstände, auch die Todesstrafe; daſs der Freie nicht gefoltert werden kann, ist ein Ursatz des römischen Rechts, den zu gewinnen andre Völker Jahrtausende haben ringen müssen. Aber es ist schreck- lich, dies Recht mit seiner unerbittlichen Strenge, die man sich nicht allzusehr gemildert denken darf durch eine humane Praxis; denn es ist ja Volksrecht — schrecklicher als die Bleidächer und die Marterkammern jenes lebendige Begräbniſs, das der Arme in dem Schuldthurm jedes vermögenden Mannes klaffen sah. Aber darin eben ist die Gröſse Roms beschlossen und begründet, daſs das Volk solche Rechte sich selber gesetzt und solches Recht ertragen hat, in dem die ewigen Grundsätze der Freiheit und der Botmäſsigkeit, des Eigenthums und der Rechtsfolge unverfälscht und ungemildert walteten und heute noch walten.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/124>, abgerufen am 19.04.2024.