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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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MASS UND SCHRIFT.
offenen Hand und der beiden Hände und die ältesten und
einzig nationalen aller italischen Schriftzeichen, irgendwo auf
der Halbinsel erfunden wurden und sich zu allen auf ihr an-
gesiedelten Stämmen verbreiteten. Decimale Raummasse, wie
diese Zeichen sie überall voraussetzen, können wir indess nur
nachweisen bei dem Stamm, der am ungetrübtesten seine
alterthümlichen Gewohnheiten bewahrte, in dem oskischen
und umbrischen Vorsus, einem Flächenmass von hundert Fuss
ins Gevierte gleich dem griechischen Plethron. Das älteste
römische Zeitmass, das wir kennen, ist gleichfalls decimal:
das zehnmonatliche Jahr, welches nichts ist als eine Anwen-
dung des Decimalsystems auf die uralte Rechnung nach Mond-
monaten. Der Tag blieb sehr lange die kleinste Einheit
-- die Eintheilung in Stunden ist erst durch die alexandrini-
schen Sonnenuhren festgestellt worden -- und es erklärt sich
daher, dass späterhin der Anfang des Tages von den Römern
auf die Mitternacht, von den Sabellern und Etruskern auf
Mittag festgesetzt wurde. Sonnenauf- und Untergang, später
auch Mittag und die Mittzeiten zwischen Morgen und Mittag,
Mittag und Abend wurden nach unmittelbarer Beobachtung
abgerufen. Wie viele Tage auf den Mondmonat gingen, be-
stimmte man nicht durch Rechnung, sondern gleichfalls durch
unmittelbare Beobachtung; den Neumond rief der Priester
öffentlich aus (kalendae, Ausrufetag), worauf dann das erste
Viertel (nonae) und acht Tage nach diesem der Vollmond
(idus, vielleicht Scheidetag) folgten; die Zwischentage zwischen
Voll- und Neumond zählte man nach uralter über die Scheidung
der Stämme zurückgehender Sitte nicht von dem letztverflosse-
nen Epochentag vor-, sondern von dem nächstfolgenden rück-
wärts. Dieser Mondmonat war also der synodische von der mitt-
leren Dauer von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten, statt dessen
man der Kürze wegen einen ,Kreis' (annus) von zehn Monaten
setzte *; alleindie astronomische Einheit blieb immer der Monat
und es war nicht einmal möglich bei jenem zehnmonatlichen
Jahr den Monaten Individualnamen zu geben. Es bedarf keiner
Bemerkung, dass man daneben die Jahreszeiten unterschied und
nach diesen die Feste normirte; für die Rechnung indess diente
lange bloss der Mondmonat und der Tag.

* Das zehnmonatliche Jahr hatte also 295 Tage; die spätere Berech-
nung desselben zu 304 Tagen beruht auf Rückrechnung aus dem Sonnen-
jahr von 365 Tagen, wie sie nach dessen Einführung für die praktische
Anwendung des zehnmonatlichen Jahres nothwendig ward.

MASS UND SCHRIFT.
offenen Hand und der beiden Hände und die ältesten und
einzig nationalen aller italischen Schriftzeichen, irgendwo auf
der Halbinsel erfunden wurden und sich zu allen auf ihr an-
gesiedelten Stämmen verbreiteten. Decimale Raummaſse, wie
diese Zeichen sie überall voraussetzen, können wir indeſs nur
nachweisen bei dem Stamm, der am ungetrübtesten seine
alterthümlichen Gewohnheiten bewahrte, in dem oskischen
und umbrischen Vorsus, einem Flächenmaſs von hundert Fuſs
ins Gevierte gleich dem griechischen Plethron. Das älteste
römische Zeitmaſs, das wir kennen, ist gleichfalls decimal:
das zehnmonatliche Jahr, welches nichts ist als eine Anwen-
dung des Decimalsystems auf die uralte Rechnung nach Mond-
monaten. Der Tag blieb sehr lange die kleinste Einheit
— die Eintheilung in Stunden ist erst durch die alexandrini-
schen Sonnenuhren festgestellt worden — und es erklärt sich
daher, daſs späterhin der Anfang des Tages von den Römern
auf die Mitternacht, von den Sabellern und Etruskern auf
Mittag festgesetzt wurde. Sonnenauf- und Untergang, später
auch Mittag und die Mittzeiten zwischen Morgen und Mittag,
Mittag und Abend wurden nach unmittelbarer Beobachtung
abgerufen. Wie viele Tage auf den Mondmonat gingen, be-
stimmte man nicht durch Rechnung, sondern gleichfalls durch
unmittelbare Beobachtung; den Neumond rief der Priester
öffentlich aus (kalendae, Ausrufetag), worauf dann das erste
Viertel (nonae) und acht Tage nach diesem der Vollmond
(idus, vielleicht Scheidetag) folgten; die Zwischentage zwischen
Voll- und Neumond zählte man nach uralter über die Scheidung
der Stämme zurückgehender Sitte nicht von dem letztverflosse-
nen Epochentag vor-, sondern von dem nächstfolgenden rück-
wärts. Dieser Mondmonat war also der synodische von der mitt-
leren Dauer von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten, statt dessen
man der Kürze wegen einen ‚Kreis‘ (annus) von zehn Monaten
setzte *; alleindie astronomische Einheit blieb immer der Monat
und es war nicht einmal möglich bei jenem zehnmonatlichen
Jahr den Monaten Individualnamen zu geben. Es bedarf keiner
Bemerkung, daſs man daneben die Jahreszeiten unterschied und
nach diesen die Feste normirte; für die Rechnung indeſs diente
lange bloſs der Mondmonat und der Tag.

* Das zehnmonatliche Jahr hatte also 295 Tage; die spätere Berech-
nung desselben zu 304 Tagen beruht auf Rückrechnung aus dem Sonnen-
jahr von 365 Tagen, wie sie nach dessen Einführung für die praktische
Anwendung des zehnmonatlichen Jahres nothwendig ward.
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[137/0151] MASS UND SCHRIFT. offenen Hand und der beiden Hände und die ältesten und einzig nationalen aller italischen Schriftzeichen, irgendwo auf der Halbinsel erfunden wurden und sich zu allen auf ihr an- gesiedelten Stämmen verbreiteten. Decimale Raummaſse, wie diese Zeichen sie überall voraussetzen, können wir indeſs nur nachweisen bei dem Stamm, der am ungetrübtesten seine alterthümlichen Gewohnheiten bewahrte, in dem oskischen und umbrischen Vorsus, einem Flächenmaſs von hundert Fuſs ins Gevierte gleich dem griechischen Plethron. Das älteste römische Zeitmaſs, das wir kennen, ist gleichfalls decimal: das zehnmonatliche Jahr, welches nichts ist als eine Anwen- dung des Decimalsystems auf die uralte Rechnung nach Mond- monaten. Der Tag blieb sehr lange die kleinste Einheit — die Eintheilung in Stunden ist erst durch die alexandrini- schen Sonnenuhren festgestellt worden — und es erklärt sich daher, daſs späterhin der Anfang des Tages von den Römern auf die Mitternacht, von den Sabellern und Etruskern auf Mittag festgesetzt wurde. Sonnenauf- und Untergang, später auch Mittag und die Mittzeiten zwischen Morgen und Mittag, Mittag und Abend wurden nach unmittelbarer Beobachtung abgerufen. Wie viele Tage auf den Mondmonat gingen, be- stimmte man nicht durch Rechnung, sondern gleichfalls durch unmittelbare Beobachtung; den Neumond rief der Priester öffentlich aus (kalendae, Ausrufetag), worauf dann das erste Viertel (nonae) und acht Tage nach diesem der Vollmond (idus, vielleicht Scheidetag) folgten; die Zwischentage zwischen Voll- und Neumond zählte man nach uralter über die Scheidung der Stämme zurückgehender Sitte nicht von dem letztverflosse- nen Epochentag vor-, sondern von dem nächstfolgenden rück- wärts. Dieser Mondmonat war also der synodische von der mitt- leren Dauer von 29 Tagen 12 Stunden 44 Minuten, statt dessen man der Kürze wegen einen ‚Kreis‘ (annus) von zehn Monaten setzte *; alleindie astronomische Einheit blieb immer der Monat und es war nicht einmal möglich bei jenem zehnmonatlichen Jahr den Monaten Individualnamen zu geben. Es bedarf keiner Bemerkung, daſs man daneben die Jahreszeiten unterschied und nach diesen die Feste normirte; für die Rechnung indeſs diente lange bloſs der Mondmonat und der Tag. * Das zehnmonatliche Jahr hatte also 295 Tage; die spätere Berech- nung desselben zu 304 Tagen beruht auf Rückrechnung aus dem Sonnen- jahr von 365 Tagen, wie sie nach dessen Einführung für die praktische Anwendung des zehnmonatlichen Jahres nothwendig ward.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/151>, abgerufen am 28.03.2024.