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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL XV.
die des nördlichen Etrurien fast bildlos und barbarisch sind.
Die Zahl der etruskischen Spiegel überwiegt weitaus die
der latinischen und besonders praenestinischen Schmuckkäst-
chen; unter diesen wie unter jenen giebt es schöne Arbei-
ten, allein von dem schönsten Werk der letzteren Gattung,
der ficoronischen Cista, konnte mit Recht gesagt werden, dass
kaum ein zweites Erzeugniss der Graphik des Alterthums vor-
handen ist, welches so wie dieses den Stempel einer in Schön-
heit und Charakteristik vollendeten und noch vollkommen rei-
nen und ernsten Kunst an sich trüge, und dieses Werk ist
nach ausdrücklicher Angabe in Rom gezeichnet. So ist es
überall, wo wir vergleichen können; und wo wir es nicht
können, zum Beispiel bei den Silbermünzen und dem Gold-
schmuck, rührt dies daher, dass man in Latium eben jene
nicht brauchte und diesen dem Todten mit ins Grab zu legen
erst die Sitte, dann das Gesetz verbot. Es ist eine gewisse
barbarische Ueberschwänglichkeit in der Art wie im Stil, die
den etruskischen Kunstwerken ihren eigenthümlichen Charakter
giebt und den latinischen völlig fremd ist. Was in Griechen-
land einzelner Scherz und flüchtige Skizze ist, wird in Etru-
rien stehende Sitte und sorgfältiges Kunstwerk; während dort
auf leichtem Material und in mässigen Verhältnissen gearbeitet
wird, liebt es die etruskische Kunst die Pracht und Grösse
ihrer Werke renommistisch hervorzuheben; wo sie nachbildet,
muss sie übertreiben: das Strenge wird ihr hart, das Anmu-
thige weichlich, das Schreckliche zum Scheusal, die Ueppig-
keit zur Zote, und immer deutlicher tritt dies hervor, je selbst-
ständiger sie sich gestaltet. Dass die etruskische Kunst auch
nach Latium und namentlich nach Rom hinübergegriffen hat,
leidet keinen Zweifel; es ist nichts natürlicher, als dass man
in Rom bei dem Bau der ersten Gotteshäuser etruskische Ar-
beiter zuzog und die ersten thönernen Kunstwerke derselben,
wie die Bildsäule des capitolinischen Iupiter und das Vierge-
spann auf dem Dach seines Tempels, in Veii bestellte. Allein
daneben gab es eine eigenthümliche von der etruskischen un-
abhängige Kunst in Latium, die in weit vollkommnerer Weise,
wenn auch mit beschränkteren Mitteln ihren griechischen Vor-
bildern nacheiferte; und wie man sich auch sträuben mag, so
gut wie man lange aufgehört hat die griechische Kunst aus der
etruskischen abzuleiten, wird man sich auch noch entschliessen
müssen den Etruskern in der Geschichte der italischen Kunst
den letzten Platz statt des ersten anzuweisen.


ERSTES BUCH. KAPITEL XV.
die des nördlichen Etrurien fast bildlos und barbarisch sind.
Die Zahl der etruskischen Spiegel überwiegt weitaus die
der latinischen und besonders praenestinischen Schmuckkäst-
chen; unter diesen wie unter jenen giebt es schöne Arbei-
ten, allein von dem schönsten Werk der letzteren Gattung,
der ficoronischen Cista, konnte mit Recht gesagt werden, daſs
kaum ein zweites Erzeugniſs der Graphik des Alterthums vor-
handen ist, welches so wie dieses den Stempel einer in Schön-
heit und Charakteristik vollendeten und noch vollkommen rei-
nen und ernsten Kunst an sich trüge, und dieses Werk ist
nach ausdrücklicher Angabe in Rom gezeichnet. So ist es
überall, wo wir vergleichen können; und wo wir es nicht
können, zum Beispiel bei den Silbermünzen und dem Gold-
schmuck, rührt dies daher, daſs man in Latium eben jene
nicht brauchte und diesen dem Todten mit ins Grab zu legen
erst die Sitte, dann das Gesetz verbot. Es ist eine gewisse
barbarische Ueberschwänglichkeit in der Art wie im Stil, die
den etruskischen Kunstwerken ihren eigenthümlichen Charakter
giebt und den latinischen völlig fremd ist. Was in Griechen-
land einzelner Scherz und flüchtige Skizze ist, wird in Etru-
rien stehende Sitte und sorgfältiges Kunstwerk; während dort
auf leichtem Material und in mäſsigen Verhältnissen gearbeitet
wird, liebt es die etruskische Kunst die Pracht und Gröſse
ihrer Werke renommistisch hervorzuheben; wo sie nachbildet,
muſs sie übertreiben: das Strenge wird ihr hart, das Anmu-
thige weichlich, das Schreckliche zum Scheusal, die Ueppig-
keit zur Zote, und immer deutlicher tritt dies hervor, je selbst-
ständiger sie sich gestaltet. Daſs die etruskische Kunst auch
nach Latium und namentlich nach Rom hinübergegriffen hat,
leidet keinen Zweifel; es ist nichts natürlicher, als daſs man
in Rom bei dem Bau der ersten Gotteshäuser etruskische Ar-
beiter zuzog und die ersten thönernen Kunstwerke derselben,
wie die Bildsäule des capitolinischen Iupiter und das Vierge-
spann auf dem Dach seines Tempels, in Veii bestellte. Allein
daneben gab es eine eigenthümliche von der etruskischen un-
abhängige Kunst in Latium, die in weit vollkommnerer Weise,
wenn auch mit beschränkteren Mitteln ihren griechischen Vor-
bildern nacheiferte; und wie man sich auch sträuben mag, so
gut wie man lange aufgehört hat die griechische Kunst aus der
etruskischen abzuleiten, wird man sich auch noch entschlieſsen
müssen den Etruskern in der Geschichte der italischen Kunst
den letzten Platz statt des ersten anzuweisen.


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[154/0168] ERSTES BUCH. KAPITEL XV. die des nördlichen Etrurien fast bildlos und barbarisch sind. Die Zahl der etruskischen Spiegel überwiegt weitaus die der latinischen und besonders praenestinischen Schmuckkäst- chen; unter diesen wie unter jenen giebt es schöne Arbei- ten, allein von dem schönsten Werk der letzteren Gattung, der ficoronischen Cista, konnte mit Recht gesagt werden, daſs kaum ein zweites Erzeugniſs der Graphik des Alterthums vor- handen ist, welches so wie dieses den Stempel einer in Schön- heit und Charakteristik vollendeten und noch vollkommen rei- nen und ernsten Kunst an sich trüge, und dieses Werk ist nach ausdrücklicher Angabe in Rom gezeichnet. So ist es überall, wo wir vergleichen können; und wo wir es nicht können, zum Beispiel bei den Silbermünzen und dem Gold- schmuck, rührt dies daher, daſs man in Latium eben jene nicht brauchte und diesen dem Todten mit ins Grab zu legen erst die Sitte, dann das Gesetz verbot. Es ist eine gewisse barbarische Ueberschwänglichkeit in der Art wie im Stil, die den etruskischen Kunstwerken ihren eigenthümlichen Charakter giebt und den latinischen völlig fremd ist. Was in Griechen- land einzelner Scherz und flüchtige Skizze ist, wird in Etru- rien stehende Sitte und sorgfältiges Kunstwerk; während dort auf leichtem Material und in mäſsigen Verhältnissen gearbeitet wird, liebt es die etruskische Kunst die Pracht und Gröſse ihrer Werke renommistisch hervorzuheben; wo sie nachbildet, muſs sie übertreiben: das Strenge wird ihr hart, das Anmu- thige weichlich, das Schreckliche zum Scheusal, die Ueppig- keit zur Zote, und immer deutlicher tritt dies hervor, je selbst- ständiger sie sich gestaltet. Daſs die etruskische Kunst auch nach Latium und namentlich nach Rom hinübergegriffen hat, leidet keinen Zweifel; es ist nichts natürlicher, als daſs man in Rom bei dem Bau der ersten Gotteshäuser etruskische Ar- beiter zuzog und die ersten thönernen Kunstwerke derselben, wie die Bildsäule des capitolinischen Iupiter und das Vierge- spann auf dem Dach seines Tempels, in Veii bestellte. Allein daneben gab es eine eigenthümliche von der etruskischen un- abhängige Kunst in Latium, die in weit vollkommnerer Weise, wenn auch mit beschränkteren Mitteln ihren griechischen Vor- bildern nacheiferte; und wie man sich auch sträuben mag, so gut wie man lange aufgehört hat die griechische Kunst aus der etruskischen abzuleiten, wird man sich auch noch entschlieſsen müssen den Etruskern in der Geschichte der italischen Kunst den letzten Platz statt des ersten anzuweisen.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/168>, abgerufen am 28.03.2024.