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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ERSTES BUCH. KAPITEL I.
nur wie die Wellen den Strand umspült hatten, sich über
beide Ufer ergossen und indem sie die Südküste geschichtlich
trennten von der nördlichen, den Schwerpunkt der Civilisation
verlegten vom Mittelmeer an den atlantischen Ocean. So
scheidet sich die alte Geschichte von der neuen nicht bloss
zufällig und chronologisch, sondern es beginnt mit dieser die
Gestaltung eines neuen Culturkreises, der in mehreren seiner
Entwicklungsepochen wohl anschliesst an die untergehende
oder untergegangene Civilisation der Mittelmeerstaaten wie diese
an die orientalische, aber auch wie diese bestimmt war eine
eigene Bahn zu durchmessen und Völkerglück und Völkerleid
im vollen Masse zu erproben: die Epochen der Entwicklung,
der Vollkraft und des Alters, die beglückende Mühe des
Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen Genuss
erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch
dereinst das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten
Befriedigung des erreichten Zieles. Aber nur ein vorläufiges
ist dieses Ziel; das grossartigste Civilisationssystem hat seine
Peripherie und kann sie erfüllen, nimmer aber das Geschlecht
der Menschen, dem so wie es am Ziele zu stehen scheint
die alte Aufgabe auf weiterem Felde und in höherem Sinne
neu gestellt wird.

Unsere Aufgabe ist die Darstellung des letzten Acts jenes
grossen weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte Geschichte der
westlicheren unter den beiden Halbinseln, die vom nördlichen
Continent aus sich in das Mittelmeer erstrecken. Sie wird
gebildet durch die Kette der Apenninen, welche an die west-
lichen Ausläufer des Alpenstockes anknüpfend und zwischen
dem schmalen östlichen und dem breiteren westlichen Becken
des Mittelmeers in südöstlicher Richtung streichend zu dem
Gebirgsstock der Abruzzen ansteigt und mit ihm hart an die
Ostküste hinantritt; nicht in steiler Kette die beiden Hälften
scheidend, sondern breit durch das Land gelagert und nament-
lich in den Abruzzen vielfache durch mässige Pässe verbun-
dene Hochebenen einschliessend. Die nördlich zwischen dieser
Bergkette und den Alpen sich ausdehnenden flachen Niede-
rungen gehören geographisch und bis in sehr späte Zeit auch
historisch nicht zu dem südlichen Hügelland, dessen Geschichte
uns hier beschäftigt; erst im siebenten Jahrhundert Roms wurde
das Küstenland von Sinigaglia bis Rimini, erst im achten das
Pothal definitiv zu Italien gezogen. Den südlichen Theil durch-
schneidet der Länge nach eine Bergreihe, die von den Abruzzen

ERSTES BUCH. KAPITEL I.
nur wie die Wellen den Strand umspült hatten, sich über
beide Ufer ergossen und indem sie die Südküste geschichtlich
trennten von der nördlichen, den Schwerpunkt der Civilisation
verlegten vom Mittelmeer an den atlantischen Ocean. So
scheidet sich die alte Geschichte von der neuen nicht bloſs
zufällig und chronologisch, sondern es beginnt mit dieser die
Gestaltung eines neuen Culturkreises, der in mehreren seiner
Entwicklungsepochen wohl anschlieſst an die untergehende
oder untergegangene Civilisation der Mittelmeerstaaten wie diese
an die orientalische, aber auch wie diese bestimmt war eine
eigene Bahn zu durchmessen und Völkerglück und Völkerleid
im vollen Maſse zu erproben: die Epochen der Entwicklung,
der Vollkraft und des Alters, die beglückende Mühe des
Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen Genuſs
erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch
dereinst das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten
Befriedigung des erreichten Zieles. Aber nur ein vorläufiges
ist dieses Ziel; das groſsartigste Civilisationssystem hat seine
Peripherie und kann sie erfüllen, nimmer aber das Geschlecht
der Menschen, dem so wie es am Ziele zu stehen scheint
die alte Aufgabe auf weiterem Felde und in höherem Sinne
neu gestellt wird.

Unsere Aufgabe ist die Darstellung des letzten Acts jenes
groſsen weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte Geschichte der
westlicheren unter den beiden Halbinseln, die vom nördlichen
Continent aus sich in das Mittelmeer erstrecken. Sie wird
gebildet durch die Kette der Apenninen, welche an die west-
lichen Ausläufer des Alpenstockes anknüpfend und zwischen
dem schmalen östlichen und dem breiteren westlichen Becken
des Mittelmeers in südöstlicher Richtung streichend zu dem
Gebirgsstock der Abruzzen ansteigt und mit ihm hart an die
Ostküste hinantritt; nicht in steiler Kette die beiden Hälften
scheidend, sondern breit durch das Land gelagert und nament-
lich in den Abruzzen vielfache durch mäſsige Pässe verbun-
dene Hochebenen einschlieſsend. Die nördlich zwischen dieser
Bergkette und den Alpen sich ausdehnenden flachen Niede-
rungen gehören geographisch und bis in sehr späte Zeit auch
historisch nicht zu dem südlichen Hügelland, dessen Geschichte
uns hier beschäftigt; erst im siebenten Jahrhundert Roms wurde
das Küstenland von Sinigaglia bis Rimini, erst im achten das
Pothal definitiv zu Italien gezogen. Den südlichen Theil durch-
schneidet der Länge nach eine Bergreihe, die von den Abruzzen

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[4/0018] ERSTES BUCH. KAPITEL I. nur wie die Wellen den Strand umspült hatten, sich über beide Ufer ergossen und indem sie die Südküste geschichtlich trennten von der nördlichen, den Schwerpunkt der Civilisation verlegten vom Mittelmeer an den atlantischen Ocean. So scheidet sich die alte Geschichte von der neuen nicht bloſs zufällig und chronologisch, sondern es beginnt mit dieser die Gestaltung eines neuen Culturkreises, der in mehreren seiner Entwicklungsepochen wohl anschlieſst an die untergehende oder untergegangene Civilisation der Mittelmeerstaaten wie diese an die orientalische, aber auch wie diese bestimmt war eine eigene Bahn zu durchmessen und Völkerglück und Völkerleid im vollen Maſse zu erproben: die Epochen der Entwicklung, der Vollkraft und des Alters, die beglückende Mühe des Schaffens in Religion, Staat und Kunst, den bequemen Genuſs erworbenen materiellen und geistigen Besitzes, vielleicht auch dereinst das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten Befriedigung des erreichten Zieles. Aber nur ein vorläufiges ist dieses Ziel; das groſsartigste Civilisationssystem hat seine Peripherie und kann sie erfüllen, nimmer aber das Geschlecht der Menschen, dem so wie es am Ziele zu stehen scheint die alte Aufgabe auf weiterem Felde und in höherem Sinne neu gestellt wird. Unsere Aufgabe ist die Darstellung des letzten Acts jenes groſsen weltgeschichtlichen Schauspiels, die alte Geschichte der westlicheren unter den beiden Halbinseln, die vom nördlichen Continent aus sich in das Mittelmeer erstrecken. Sie wird gebildet durch die Kette der Apenninen, welche an die west- lichen Ausläufer des Alpenstockes anknüpfend und zwischen dem schmalen östlichen und dem breiteren westlichen Becken des Mittelmeers in südöstlicher Richtung streichend zu dem Gebirgsstock der Abruzzen ansteigt und mit ihm hart an die Ostküste hinantritt; nicht in steiler Kette die beiden Hälften scheidend, sondern breit durch das Land gelagert und nament- lich in den Abruzzen vielfache durch mäſsige Pässe verbun- dene Hochebenen einschlieſsend. Die nördlich zwischen dieser Bergkette und den Alpen sich ausdehnenden flachen Niede- rungen gehören geographisch und bis in sehr späte Zeit auch historisch nicht zu dem südlichen Hügelland, dessen Geschichte uns hier beschäftigt; erst im siebenten Jahrhundert Roms wurde das Küstenland von Sinigaglia bis Rimini, erst im achten das Pothal definitiv zu Italien gezogen. Den südlichen Theil durch- schneidet der Länge nach eine Bergreihe, die von den Abruzzen

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/18>, abgerufen am 28.03.2024.