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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN.
ist die in den Gerundien und Supinen vollständiger als sonst
irgendwo durchgeführte Substantivirung der Zeitwörter. --
Diese aus einer reichen Fülle analoger Erscheinungen ausge-
wählten Beispiele genügen um die Individualität des italischen
Sprachstamms jedem andern indogermanischen gegenüber dar-
zuthun und zeigen denselben zugleich sprachlich wie geogra-
phisch als nächsten Stammverwandten der Griechen; der Grie-
che und der Italiker sind Brüder, der Kelte und der Slave
ihnen Vettern. Diese wesentliche Einheit aller italischen wie
aller griechischen Dialekte und Stämme muss früh und klar
den beiden grossen Nationen aufgegangen sein; denn wir fin-
den in der römischen Sprache ein uraltes Wort räthselhaften
Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen bezeich-
net, ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Opikos,
die von allen den Griechen in älterer Zeit bekannten latini-
schen und samnitischen Stämmen, nicht aber von Iapygern
oder Etruskern gebraucht wird. -- Innerhalb des italischen
Sprachstammes aber tritt das Lateinische wieder in einen be-
stimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen Dialekten.
Wo der Römer q, sagt der Samnite und der Umbrer namentlich
im Fürwort p, so pis für quis; ganz ähnlich wie sich auch sonst
noch verwandte Sprachen scheiden, wie z. B. dem Keltischen
in der Bretagne und Wales p, dem Galischen und Irischen k eigen
ist. In den Vocalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen
und überhaupt den nördlichen Dialekten sehr zerstört, dagegen
in den südlichen italischen Dialekten sie wenig gelitten haben;
womit verwandt ist, dass in der Zusammensetzung der Römer
den sonst so streng bewahrten Grundvocal abschwächt, was
nicht geschieht in den verwandten Sprachen. Der Genitiv der
Wörter auf a ist in diesen wie bei den Griechen as, bei den
Römern in der ausgebildeten Sprache ae; der der Wörter auf
us im Samnitischen eis, im Umbrischen es, bei den Römern
ei; der Locativ tritt bei diesen im Sprachbewusstsein mehr
und mehr zurück, während er in den anderen italischen Dia-
lekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus
ist nur im Lateinischen erhalten. Der umbrisch-samnitische
Infinitiv auf um ist den Römern fremd; während das oskisch-
umbrische von der Wurzel es gebildete Futur nach griechi-
scher Art (her-est wie leg-so) bei den Römern fast, viel-
leicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des
einfachen Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo
(ama-bo
). In vielen dieser Unterschiede, z. B. in den Casus-

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ist die in den Gerundien und Supinen vollständiger als sonst
irgendwo durchgeführte Substantivirung der Zeitwörter. —
Diese aus einer reichen Fülle analoger Erscheinungen ausge-
wählten Beispiele genügen um die Individualität des italischen
Sprachstamms jedem andern indogermanischen gegenüber dar-
zuthun und zeigen denselben zugleich sprachlich wie geogra-
phisch als nächsten Stammverwandten der Griechen; der Grie-
che und der Italiker sind Brüder, der Kelte und der Slave
ihnen Vettern. Diese wesentliche Einheit aller italischen wie
aller griechischen Dialekte und Stämme muſs früh und klar
den beiden groſsen Nationen aufgegangen sein; denn wir fin-
den in der römischen Sprache ein uraltes Wort räthselhaften
Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen bezeich-
net, ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Ὀπιϰός,
die von allen den Griechen in älterer Zeit bekannten latini-
schen und samnitischen Stämmen, nicht aber von Iapygern
oder Etruskern gebraucht wird. — Innerhalb des italischen
Sprachstammes aber tritt das Lateinische wieder in einen be-
stimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen Dialekten.
Wo der Römer q, sagt der Samnite und der Umbrer namentlich
im Fürwort p, so pis für quis; ganz ähnlich wie sich auch sonst
noch verwandte Sprachen scheiden, wie z. B. dem Keltischen
in der Bretagne und Wales p, dem Galischen und Irischen k eigen
ist. In den Vocalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen
und überhaupt den nördlichen Dialekten sehr zerstört, dagegen
in den südlichen italischen Dialekten sie wenig gelitten haben;
womit verwandt ist, daſs in der Zusammensetzung der Römer
den sonst so streng bewahrten Grundvocal abschwächt, was
nicht geschieht in den verwandten Sprachen. Der Genitiv der
Wörter auf a ist in diesen wie bei den Griechen as, bei den
Römern in der ausgebildeten Sprache ae; der der Wörter auf
us im Samnitischen eis, im Umbrischen es, bei den Römern
ei; der Locativ tritt bei diesen im Sprachbewuſstsein mehr
und mehr zurück, während er in den anderen italischen Dia-
lekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus
ist nur im Lateinischen erhalten. Der umbrisch-samnitische
Infinitiv auf um ist den Römern fremd; während das oskisch-
umbrische von der Wurzel es gebildete Futur nach griechi-
scher Art (her-est wie λέγ-σω) bei den Römern fast, viel-
leicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des
einfachen Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo
(ama-bo
). In vielen dieser Unterschiede, z. B. in den Casus-

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[11/0025] AELTESTE EINWANDERUNGEN IN ITALIEN. ist die in den Gerundien und Supinen vollständiger als sonst irgendwo durchgeführte Substantivirung der Zeitwörter. — Diese aus einer reichen Fülle analoger Erscheinungen ausge- wählten Beispiele genügen um die Individualität des italischen Sprachstamms jedem andern indogermanischen gegenüber dar- zuthun und zeigen denselben zugleich sprachlich wie geogra- phisch als nächsten Stammverwandten der Griechen; der Grie- che und der Italiker sind Brüder, der Kelte und der Slave ihnen Vettern. Diese wesentliche Einheit aller italischen wie aller griechischen Dialekte und Stämme muſs früh und klar den beiden groſsen Nationen aufgegangen sein; denn wir fin- den in der römischen Sprache ein uraltes Wort räthselhaften Ursprungs, Graius oder Graicus, das jeden Hellenen bezeich- net, ebenso bei den Griechen die analoge Benennung Ὀπιϰός, die von allen den Griechen in älterer Zeit bekannten latini- schen und samnitischen Stämmen, nicht aber von Iapygern oder Etruskern gebraucht wird. — Innerhalb des italischen Sprachstammes aber tritt das Lateinische wieder in einen be- stimmten Gegensatz zu den umbrisch-samnitischen Dialekten. Wo der Römer q, sagt der Samnite und der Umbrer namentlich im Fürwort p, so pis für quis; ganz ähnlich wie sich auch sonst noch verwandte Sprachen scheiden, wie z. B. dem Keltischen in der Bretagne und Wales p, dem Galischen und Irischen k eigen ist. In den Vocalen erscheinen die Diphthonge im Lateinischen und überhaupt den nördlichen Dialekten sehr zerstört, dagegen in den südlichen italischen Dialekten sie wenig gelitten haben; womit verwandt ist, daſs in der Zusammensetzung der Römer den sonst so streng bewahrten Grundvocal abschwächt, was nicht geschieht in den verwandten Sprachen. Der Genitiv der Wörter auf a ist in diesen wie bei den Griechen as, bei den Römern in der ausgebildeten Sprache ae; der der Wörter auf us im Samnitischen eis, im Umbrischen es, bei den Römern ei; der Locativ tritt bei diesen im Sprachbewuſstsein mehr und mehr zurück, während er in den anderen italischen Dia- lekten in vollem Gebrauch blieb; der Dativ des Plural auf bus ist nur im Lateinischen erhalten. Der umbrisch-samnitische Infinitiv auf um ist den Römern fremd; während das oskisch- umbrische von der Wurzel es gebildete Futur nach griechi- scher Art (her-est wie λέγ-σω) bei den Römern fast, viel- leicht ganz verschollen und ersetzt ist durch den Optativ des einfachen Zeitworts oder durch analoge Bildungen von fuo (ama-bo). In vielen dieser Unterschiede, z. B. in den Casus-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/25>, abgerufen am 18.04.2024.