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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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formen sind die Unterschiede indess nur vorhanden für die
beiderseits ausgebildeten Sprachen, während die Anfänge zu-
sammenfallen und je mehr überhaupt die Forschung eindringt
in die Kunde der neben dem Latein stehenden italischen
Sprachen, desto deutlicher erscheinen sie als eng unter sich
wie dem Latein verwandt. Wenn auch unsre Kunde selbst
des umbrischen und des samnitischen oder oskischen Dialekts
noch äusserst lückenhaft ist, wenn andere Dialekte gar in zu
geringen Trümmern auf uns gekommen sind, um sie in ihrer
Individualität zu erfassen oder auch nur die Mundarten danach
mit Sicherheit und Genauigkeit zu classificiren -- so der vols-
kische und der marsische; andere, wie der sabinische, bis auf
geringe als dialektische Eigenthümlichkeiten im provinzialen La-
tein erhaltene Spuren völlig untergegangen sind, so lässt doch
die Combination der sprachlichen und der historischen That-
sachen daran keinen Zweifel, dass diese sämmtlichen Dialekte
dem umbrisch-samnitischen Zweig des grossen italischen Stam-
mes angehört haben. Wenn also die italische Sprache neben der
griechischen selbstständig steht, so verhalten sich in jener die
lateinische Mundart zu der umbrisch-samnitischen etwa wie
die ionische zur dorischen, während sich die Verschiedenheiten
des Oskischen und Umbrischen und der verwandten Dialekte
etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sicilien
und in Sparta. -- Jede dieser Spracherscheinungen ist Er-
gebniss und Zeugniss eines historischen Ereignisses; es lässt sich
daraus mit vollkommener Sicherheit erschliessen, dass aus dem
gemeinschaftlichen Mutterschoss der Völker und der Sprachen
ein Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der
Italiker gemeinschaftlich in sich schloss; dass aus diesem als-
dann die Italiker sich abzweigten und diese wieder in den
westlichen und östlichen Stamm, der östliche alsdann wieder
in Umbrer und Osker aus einander gingen. Wo und wann
diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache nicht
lehren und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen
diesen Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die frühe-
sten unzweifelhaft lange vor derjenigen Einwanderung statt-
fanden, welche die Stammväter der Italiker über die Apenni-
nen führte. -- Dagegen kann uns die Vergleichung der Spra-
chen, richtig und vorsichtig behandelt, ein annäherndes Bild
desjenigen Culturgrades gewähren, auf dem das Volk sich be-
fand als jene Trennungen eintraten, und damit die Anfänge
der Geschichte, welche nichts ist als die Entwicklung der

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formen sind die Unterschiede indeſs nur vorhanden für die
beiderseits ausgebildeten Sprachen, während die Anfänge zu-
sammenfallen und je mehr überhaupt die Forschung eindringt
in die Kunde der neben dem Latein stehenden italischen
Sprachen, desto deutlicher erscheinen sie als eng unter sich
wie dem Latein verwandt. Wenn auch unsre Kunde selbst
des umbrischen und des samnitischen oder oskischen Dialekts
noch äuſserst lückenhaft ist, wenn andere Dialekte gar in zu
geringen Trümmern auf uns gekommen sind, um sie in ihrer
Individualität zu erfassen oder auch nur die Mundarten danach
mit Sicherheit und Genauigkeit zu classificiren — so der vols-
kische und der marsische; andere, wie der sabinische, bis auf
geringe als dialektische Eigenthümlichkeiten im provinzialen La-
tein erhaltene Spuren völlig untergegangen sind, so läſst doch
die Combination der sprachlichen und der historischen That-
sachen daran keinen Zweifel, daſs diese sämmtlichen Dialekte
dem umbrisch-samnitischen Zweig des groſsen italischen Stam-
mes angehört haben. Wenn also die italische Sprache neben der
griechischen selbstständig steht, so verhalten sich in jener die
lateinische Mundart zu der umbrisch-samnitischen etwa wie
die ionische zur dorischen, während sich die Verschiedenheiten
des Oskischen und Umbrischen und der verwandten Dialekte
etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sicilien
und in Sparta. — Jede dieser Spracherscheinungen ist Er-
gebniſs und Zeugniſs eines historischen Ereignisses; es läſst sich
daraus mit vollkommener Sicherheit erschlieſsen, daſs aus dem
gemeinschaftlichen Mutterschoſs der Völker und der Sprachen
ein Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der
Italiker gemeinschaftlich in sich schloſs; daſs aus diesem als-
dann die Italiker sich abzweigten und diese wieder in den
westlichen und östlichen Stamm, der östliche alsdann wieder
in Umbrer und Osker aus einander gingen. Wo und wann
diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache nicht
lehren und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen
diesen Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die frühe-
sten unzweifelhaft lange vor derjenigen Einwanderung statt-
fanden, welche die Stammväter der Italiker über die Apenni-
nen führte. — Dagegen kann uns die Vergleichung der Spra-
chen, richtig und vorsichtig behandelt, ein annäherndes Bild
desjenigen Culturgrades gewähren, auf dem das Volk sich be-
fand als jene Trennungen eintraten, und damit die Anfänge
der Geschichte, welche nichts ist als die Entwicklung der

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[12/0026] ERSTES BUCH. KAPITEL II. formen sind die Unterschiede indeſs nur vorhanden für die beiderseits ausgebildeten Sprachen, während die Anfänge zu- sammenfallen und je mehr überhaupt die Forschung eindringt in die Kunde der neben dem Latein stehenden italischen Sprachen, desto deutlicher erscheinen sie als eng unter sich wie dem Latein verwandt. Wenn auch unsre Kunde selbst des umbrischen und des samnitischen oder oskischen Dialekts noch äuſserst lückenhaft ist, wenn andere Dialekte gar in zu geringen Trümmern auf uns gekommen sind, um sie in ihrer Individualität zu erfassen oder auch nur die Mundarten danach mit Sicherheit und Genauigkeit zu classificiren — so der vols- kische und der marsische; andere, wie der sabinische, bis auf geringe als dialektische Eigenthümlichkeiten im provinzialen La- tein erhaltene Spuren völlig untergegangen sind, so läſst doch die Combination der sprachlichen und der historischen That- sachen daran keinen Zweifel, daſs diese sämmtlichen Dialekte dem umbrisch-samnitischen Zweig des groſsen italischen Stam- mes angehört haben. Wenn also die italische Sprache neben der griechischen selbstständig steht, so verhalten sich in jener die lateinische Mundart zu der umbrisch-samnitischen etwa wie die ionische zur dorischen, während sich die Verschiedenheiten des Oskischen und Umbrischen und der verwandten Dialekte etwa vergleichen lassen mit denen des Dorismus in Sicilien und in Sparta. — Jede dieser Spracherscheinungen ist Er- gebniſs und Zeugniſs eines historischen Ereignisses; es läſst sich daraus mit vollkommener Sicherheit erschlieſsen, daſs aus dem gemeinschaftlichen Mutterschoſs der Völker und der Sprachen ein Stamm ausschied, der die Ahnen der Griechen und der Italiker gemeinschaftlich in sich schloſs; daſs aus diesem als- dann die Italiker sich abzweigten und diese wieder in den westlichen und östlichen Stamm, der östliche alsdann wieder in Umbrer und Osker aus einander gingen. Wo und wann diese Scheidungen stattfanden, kann freilich die Sprache nicht lehren und kaum darf der verwegene Gedanke es versuchen diesen Revolutionen ahnend zu folgen, von denen die frühe- sten unzweifelhaft lange vor derjenigen Einwanderung statt- fanden, welche die Stammväter der Italiker über die Apenni- nen führte. — Dagegen kann uns die Vergleichung der Spra- chen, richtig und vorsichtig behandelt, ein annäherndes Bild desjenigen Culturgrades gewähren, auf dem das Volk sich be- fand als jene Trennungen eintraten, und damit die Anfänge der Geschichte, welche nichts ist als die Entwicklung der

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/26>, abgerufen am 25.04.2024.