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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Massinissas übertragen, die Sclaven sämmtlich frei erklärt. Das
Emigrantenheer unter Hasdrubal dem Samniten, das mit Aus-
nahme der von den Römern besetzten Städte an der Ostküste
Hadrumetum, Kleinleptis, Thapsus und Achulla und der Stadt
Utica das ganze karthagische Gebiet inne hatte und für die Ver-
theidigung eine unschätzbare Stütze bot, ward ersucht der Ge-
meinde seinen Beistand in dieser höchsten Noth nicht zu versa-
gen. Zugleich versuchte man, in echt phönikischer Weise die
grenzenloseste Erbitterung unter dem Mantel der Demuth ver-
steckend, den Feind zu täuschen. Es ging eine Botschaft an die
Consuln, um dreissigtägigen Waffenstillstand zur Absendung einer
Gesandtschaft nach Rom zu erbitten. Die Karthager wussten
wohl, dass die Feldherren diese schon früher abgeschlagene Bitte
weder gewähren wollten noch konnten; allein die Consuln wur-
den dadurch bestärkt in der natürlichen Voraussetzung, dass
nach dem ersten Ausbruch der Verzweiflung die gänzlich wehr-
lose Stadt sich fügen werde, und verschoben desshalb den An-
griff. Die kostbare Zwischenzeit ward benutzt um Wurf-
geschütze und Rüstungen herzustellen; Tag und Nacht ward
ohne Unterschied des Alters und Geschlechts an Maschinen
und Waffen gezimmert und gehämmert; um Balken und Me-
tall zu erlangen wurden die öffentlichen Gebäude niedergeris-
sen; um die für die Wurfgeschütze unentbehrlichen Sehnen her-
zustellen schoren die Frauen sich das Haar; in unglaublich kur-
zer Zeit waren die Mauern und die Männer wieder bewehrt. Dass
dies alles geschehen konnte, ohne dass die wenigen Meilen entfern-
ten Consuln etwas davon erfuhren, ist nicht der am wenigsten
wunderbare Zug in dieser wunderbaren von einem wahrhaft
genialen, ja dämonischen Volkshass getragenen Bewegung. Als end-
lich des Wartens müde die Consuln aus dem Lager bei Utica auf-
brachen und bloss mit Leitern die nackten Mauern ersteigen zu
können meinten, fanden sie mit Staunen und Schrecken die Zin-
nen aufs neue mit Katapelten gekrönt und die grosse volkreiche
Stadt, welche man gleich einem offenen Flecken zu besetzen ge-
hofft hatte, fähig und bereit sich bis auf den letzten Mann zu
vertheidigen.

Karthago war sehr fest durch die Natur seiner Lage *wie

* Der Zug der Küste ist im Lauf der Jahrhunderte so verändert wor-
den, dass man an der alten Stätte die ehemaligen Localverhältnisse nur un-
vollkommen wiedererkennt. Den Namen der Stadt bewahrt das Cap Kar-
tadschena, auch von dem dort befindlichen Heiligengrab Ras Sidi bu Said ge-

DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN.
Massinissas übertragen, die Sclaven sämmtlich frei erklärt. Das
Emigrantenheer unter Hasdrubal dem Samniten, das mit Aus-
nahme der von den Römern besetzten Städte an der Ostküste
Hadrumetum, Kleinleptis, Thapsus und Achulla und der Stadt
Utica das ganze karthagische Gebiet inne hatte und für die Ver-
theidigung eine unschätzbare Stütze bot, ward ersucht der Ge-
meinde seinen Beistand in dieser höchsten Noth nicht zu versa-
gen. Zugleich versuchte man, in echt phönikischer Weise die
grenzenloseste Erbitterung unter dem Mantel der Demuth ver-
steckend, den Feind zu täuschen. Es ging eine Botschaft an die
Consuln, um dreiſsigtägigen Waffenstillstand zur Absendung einer
Gesandtschaft nach Rom zu erbitten. Die Karthager wuſsten
wohl, daſs die Feldherren diese schon früher abgeschlagene Bitte
weder gewähren wollten noch konnten; allein die Consuln wur-
den dadurch bestärkt in der natürlichen Voraussetzung, daſs
nach dem ersten Ausbruch der Verzweiflung die gänzlich wehr-
lose Stadt sich fügen werde, und verschoben deſshalb den An-
griff. Die kostbare Zwischenzeit ward benutzt um Wurf-
geschütze und Rüstungen herzustellen; Tag und Nacht ward
ohne Unterschied des Alters und Geschlechts an Maschinen
und Waffen gezimmert und gehämmert; um Balken und Me-
tall zu erlangen wurden die öffentlichen Gebäude niedergeris-
sen; um die für die Wurfgeschütze unentbehrlichen Sehnen her-
zustellen schoren die Frauen sich das Haar; in unglaublich kur-
zer Zeit waren die Mauern und die Männer wieder bewehrt. Daſs
dies alles geschehen konnte, ohne daſs die wenigen Meilen entfern-
ten Consuln etwas davon erfuhren, ist nicht der am wenigsten
wunderbare Zug in dieser wunderbaren von einem wahrhaft
genialen, ja dämonischen Volkshaſs getragenen Bewegung. Als end-
lich des Wartens müde die Consuln aus dem Lager bei Utica auf-
brachen und bloſs mit Leitern die nackten Mauern ersteigen zu
können meinten, fanden sie mit Staunen und Schrecken die Zin-
nen aufs neue mit Katapelten gekrönt und die groſse volkreiche
Stadt, welche man gleich einem offenen Flecken zu besetzen ge-
hofft hatte, fähig und bereit sich bis auf den letzten Mann zu
vertheidigen.

Karthago war sehr fest durch die Natur seiner Lage *wie

* Der Zug der Küste ist im Lauf der Jahrhunderte so verändert wor-
den, daſs man an der alten Stätte die ehemaligen Localverhältnisse nur un-
vollkommen wiedererkennt. Den Namen der Stadt bewahrt das Cap Kar-
tadschena, auch von dem dort befindlichen Heiligengrab Ras Sidi bu Said ge-
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[27/0037] DIE UNTERTHÄNIGEN LANDSCHAFTEN. Massinissas übertragen, die Sclaven sämmtlich frei erklärt. Das Emigrantenheer unter Hasdrubal dem Samniten, das mit Aus- nahme der von den Römern besetzten Städte an der Ostküste Hadrumetum, Kleinleptis, Thapsus und Achulla und der Stadt Utica das ganze karthagische Gebiet inne hatte und für die Ver- theidigung eine unschätzbare Stütze bot, ward ersucht der Ge- meinde seinen Beistand in dieser höchsten Noth nicht zu versa- gen. Zugleich versuchte man, in echt phönikischer Weise die grenzenloseste Erbitterung unter dem Mantel der Demuth ver- steckend, den Feind zu täuschen. Es ging eine Botschaft an die Consuln, um dreiſsigtägigen Waffenstillstand zur Absendung einer Gesandtschaft nach Rom zu erbitten. Die Karthager wuſsten wohl, daſs die Feldherren diese schon früher abgeschlagene Bitte weder gewähren wollten noch konnten; allein die Consuln wur- den dadurch bestärkt in der natürlichen Voraussetzung, daſs nach dem ersten Ausbruch der Verzweiflung die gänzlich wehr- lose Stadt sich fügen werde, und verschoben deſshalb den An- griff. Die kostbare Zwischenzeit ward benutzt um Wurf- geschütze und Rüstungen herzustellen; Tag und Nacht ward ohne Unterschied des Alters und Geschlechts an Maschinen und Waffen gezimmert und gehämmert; um Balken und Me- tall zu erlangen wurden die öffentlichen Gebäude niedergeris- sen; um die für die Wurfgeschütze unentbehrlichen Sehnen her- zustellen schoren die Frauen sich das Haar; in unglaublich kur- zer Zeit waren die Mauern und die Männer wieder bewehrt. Daſs dies alles geschehen konnte, ohne daſs die wenigen Meilen entfern- ten Consuln etwas davon erfuhren, ist nicht der am wenigsten wunderbare Zug in dieser wunderbaren von einem wahrhaft genialen, ja dämonischen Volkshaſs getragenen Bewegung. Als end- lich des Wartens müde die Consuln aus dem Lager bei Utica auf- brachen und bloſs mit Leitern die nackten Mauern ersteigen zu können meinten, fanden sie mit Staunen und Schrecken die Zin- nen aufs neue mit Katapelten gekrönt und die groſse volkreiche Stadt, welche man gleich einem offenen Flecken zu besetzen ge- hofft hatte, fähig und bereit sich bis auf den letzten Mann zu vertheidigen. Karthago war sehr fest durch die Natur seiner Lage *wie * Der Zug der Küste ist im Lauf der Jahrhunderte so verändert wor- den, daſs man an der alten Stätte die ehemaligen Localverhältnisse nur un- vollkommen wiedererkennt. Den Namen der Stadt bewahrt das Cap Kar- tadschena, auch von dem dort befindlichen Heiligengrab Ras Sidi bu Said ge-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/37>, abgerufen am 28.03.2024.