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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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sich schon nicht mehr auf diese natürlichen Grenzen. Die in Ita-
lien zusammenströmende Capitalmasse, der Reichthum seiner Pro-
ducte, die Intelligenz seiner Landwirthe, die Gewandtheit seiner
Kaufleute fanden keinen hinreichenden Spielraum auf der Halb-
insel; hiedurch und durch den öffentlichen Dienst wurden die Ita-
liker massenweise in die Provinzen geführt (S. 377). Ihre pri-
vilegirte Stellung daselbst privilegirte auch die römische Sprache
und das römische Recht, selbst wo nicht bloss Römer mit ein-
ander verkehrten (S. 345); überall standen die Italiker zusam-
men als festgeschlossene und organisirte Massen, die Soldaten
in ihren Legionen, die Kaufleute jeder grösseren Stadt als eigene
Gesellschaften, die in dem einzelnen provinzialen Gerichtsspren-
gel domicilirten oder verweilenden römischen Bürger als ,Kreise'
(conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschwornen-
liste und gewissermassen mit Gemeindeverfassung; und wenn auch
diese provinzialen Römer regelmässig früher oder später nach
Italien zurückgingen, so bildeten sie dennoch allmählich den
Stamm einer festen theils römischen, theils an die römische sich
anlehnenden Mischbevölkerung der Provinzen. Dass in Spanien,
wo das römische Heer zuerst stehend ward, auch zuerst eigene
Provinzialstädte italischer Verfassung, Carteia, 5S3 (S. 4), Va-
lentia 616 (S. 17), später Palma und Pollentia (S. 18) organi-
sirt worden sind, ward bereits erwähnt. Wenn das Binnenland
noch wenig civilisirt war, das Gebiet der Vaccaeer zum Beispiel
noch lange nach dieser Zeit unter den rauhesten und widerwär-
tigsten Aufenthaltsorten für den gebildeten Italiker genannt wird,
so bezeugen dagegen Schriftsteller und Inschriftsteine, dass schon
um die Mitte des siebenten Jahrhunderts um Neukarthago und
sonst an der Küste die lateinische Sprache in gemeinem Gebrauch
war. In bewusster Weise entwickelte zuerst Gaius Gracchus den
Gedanken die Provinzen des römischen Staats durch die italische
Emigration zu colonisiren, das heisst zu romanisiren und legte
Hand an die Ausführung desselben; obgleich die conservative
Opposition gegen den kühnen Entwurf sich auflehnte, die ge-
machten Anfänge grösstentheils zerstörte und die Fortführung
hemmte, so blieb doch die Colonie Narbo erhalten, schon an sich
eine bedeutende Erweiterung des lateinischen Sprachgebiets
und noch bei weitem wichtiger als der Merkstein eines grossen
Gedankens, der Grundstein eines gewaltigen künftigen Baues.
Der antike Gallicismus, ja das heutige Franzosenthum sind von
dort ausgegangen und in ihrem letzten Grunde Schöpfungen
des Gaius Gracchus. Aber die lateinische Nationalität erfüllte

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sich schon nicht mehr auf diese natürlichen Grenzen. Die in Ita-
lien zusammenströmende Capitalmasse, der Reichthum seiner Pro-
ducte, die Intelligenz seiner Landwirthe, die Gewandtheit seiner
Kaufleute fanden keinen hinreichenden Spielraum auf der Halb-
insel; hiedurch und durch den öffentlichen Dienst wurden die Ita-
liker massenweise in die Provinzen geführt (S. 377). Ihre pri-
vilegirte Stellung daselbst privilegirte auch die römische Sprache
und das römische Recht, selbst wo nicht bloſs Römer mit ein-
ander verkehrten (S. 345); überall standen die Italiker zusam-
men als festgeschlossene und organisirte Massen, die Soldaten
in ihren Legionen, die Kaufleute jeder gröſseren Stadt als eigene
Gesellschaften, die in dem einzelnen provinzialen Gerichtsspren-
gel domicilirten oder verweilenden römischen Bürger als ‚Kreise‘
(conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschwornen-
liste und gewissermaſsen mit Gemeindeverfassung; und wenn auch
diese provinzialen Römer regelmäſsig früher oder später nach
Italien zurückgingen, so bildeten sie dennoch allmählich den
Stamm einer festen theils römischen, theils an die römische sich
anlehnenden Mischbevölkerung der Provinzen. Daſs in Spanien,
wo das römische Heer zuerst stehend ward, auch zuerst eigene
Provinzialstädte italischer Verfassung, Carteia, 5S3 (S. 4), Va-
lentia 616 (S. 17), später Palma und Pollentia (S. 18) organi-
sirt worden sind, ward bereits erwähnt. Wenn das Binnenland
noch wenig civilisirt war, das Gebiet der Vaccaeer zum Beispiel
noch lange nach dieser Zeit unter den rauhesten und widerwär-
tigsten Aufenthaltsorten für den gebildeten Italiker genannt wird,
so bezeugen dagegen Schriftsteller und Inschriftsteine, daſs schon
um die Mitte des siebenten Jahrhunderts um Neukarthago und
sonst an der Küste die lateinische Sprache in gemeinem Gebrauch
war. In bewuſster Weise entwickelte zuerst Gaius Gracchus den
Gedanken die Provinzen des römischen Staats durch die italische
Emigration zu colonisiren, das heiſst zu romanisiren und legte
Hand an die Ausführung desselben; obgleich die conservative
Opposition gegen den kühnen Entwurf sich auflehnte, die ge-
machten Anfänge gröſstentheils zerstörte und die Fortführung
hemmte, so blieb doch die Colonie Narbo erhalten, schon an sich
eine bedeutende Erweiterung des lateinischen Sprachgebiets
und noch bei weitem wichtiger als der Merkstein eines groſsen
Gedankens, der Grundstein eines gewaltigen künftigen Baues.
Der antike Gallicismus, ja das heutige Franzosenthum sind von
dort ausgegangen und in ihrem letzten Grunde Schöpfungen
des Gaius Gracchus. Aber die lateinische Nationalität erfüllte

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[387/0397] NATIONALITÄT. sich schon nicht mehr auf diese natürlichen Grenzen. Die in Ita- lien zusammenströmende Capitalmasse, der Reichthum seiner Pro- ducte, die Intelligenz seiner Landwirthe, die Gewandtheit seiner Kaufleute fanden keinen hinreichenden Spielraum auf der Halb- insel; hiedurch und durch den öffentlichen Dienst wurden die Ita- liker massenweise in die Provinzen geführt (S. 377). Ihre pri- vilegirte Stellung daselbst privilegirte auch die römische Sprache und das römische Recht, selbst wo nicht bloſs Römer mit ein- ander verkehrten (S. 345); überall standen die Italiker zusam- men als festgeschlossene und organisirte Massen, die Soldaten in ihren Legionen, die Kaufleute jeder gröſseren Stadt als eigene Gesellschaften, die in dem einzelnen provinzialen Gerichtsspren- gel domicilirten oder verweilenden römischen Bürger als ‚Kreise‘ (conventus civium Romanorum) mit ihrer eigenen Geschwornen- liste und gewissermaſsen mit Gemeindeverfassung; und wenn auch diese provinzialen Römer regelmäſsig früher oder später nach Italien zurückgingen, so bildeten sie dennoch allmählich den Stamm einer festen theils römischen, theils an die römische sich anlehnenden Mischbevölkerung der Provinzen. Daſs in Spanien, wo das römische Heer zuerst stehend ward, auch zuerst eigene Provinzialstädte italischer Verfassung, Carteia, 5S3 (S. 4), Va- lentia 616 (S. 17), später Palma und Pollentia (S. 18) organi- sirt worden sind, ward bereits erwähnt. Wenn das Binnenland noch wenig civilisirt war, das Gebiet der Vaccaeer zum Beispiel noch lange nach dieser Zeit unter den rauhesten und widerwär- tigsten Aufenthaltsorten für den gebildeten Italiker genannt wird, so bezeugen dagegen Schriftsteller und Inschriftsteine, daſs schon um die Mitte des siebenten Jahrhunderts um Neukarthago und sonst an der Küste die lateinische Sprache in gemeinem Gebrauch war. In bewuſster Weise entwickelte zuerst Gaius Gracchus den Gedanken die Provinzen des römischen Staats durch die italische Emigration zu colonisiren, das heiſst zu romanisiren und legte Hand an die Ausführung desselben; obgleich die conservative Opposition gegen den kühnen Entwurf sich auflehnte, die ge- machten Anfänge gröſstentheils zerstörte und die Fortführung hemmte, so blieb doch die Colonie Narbo erhalten, schon an sich eine bedeutende Erweiterung des lateinischen Sprachgebiets und noch bei weitem wichtiger als der Merkstein eines groſsen Gedankens, der Grundstein eines gewaltigen künftigen Baues. Der antike Gallicismus, ja das heutige Franzosenthum sind von dort ausgegangen und in ihrem letzten Grunde Schöpfungen des Gaius Gracchus. Aber die lateinische Nationalität erfüllte 25*

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/397>, abgerufen am 28.03.2024.