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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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RELIGION.
dem Wege des Synkretismus sich wieder einigen Geist künstlich
einzuflössen: Antiochos von Askalon (blüht 675), der mit dem
stoischen System das platonisch-aristotelische zu einer organi-
schen Einheit zusammengeklittert zu haben behauptete, brachte es
in der That dahin, dass seine missgeschaffene Doctrin die Mode-
philosophie der Conservativen seiner Zeit und von den vorneh-
men Dilettanten und Litteraten Roms gewissenhaft studirt ward.
Wer irgend in geistiger Frische sich regte, opponirte der Stoa
oder ignorirte sie. Es war hauptsächlich der Widerwille gegen
die grossmauligen und langweiligen römischen Pharisäer, daneben
freilich auch die Richtung des geistigen Lebens auf eine schlaffe
Ruhe, dem während dieser Epoche das System Epikurs seine
Ausbreitung in weiteren Kreisen und die diogenische Hundephi-
losophie ihre Einbürgerung in Rom verdankte. Wie matt und
gedankenarm auch jenes sein mochte, eine Philosophie, die nicht
neue Ausdrücke als bessere zu gebrauchen, sondern mit den vor-
handenen sich zu begnügen vorschrieb und durchaus nur die
sinnliche Wahrnehmung als wahr gelten liess, war immer noch
besser als das terminologische Geklapper und die hohlen Begriffe
der stoischen Weisheit; und die Hundephilosophie gar war von
allen damaligen philosophischen Systemen insofern bei weitem
das vorzüglichste, als ihr System sich darauf beschränkte gar
kein System zu haben und alle Systeme und Systematiker zu ver-
höhnen. Auf beiden Gebieten wurde gegen die Stoa mit Eifer und
Glück Krieg geführt; für ernste Männer predigte der Epikureer
Lucretius mit dem vollen Accent der innigen Ueberzeugung und
des heiligen Eifers gegen den stoischen Götter - und Vorsehungs-
glauben und die stoische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele;
für das grosse lachbereite Publicum traf der Kyniker Varro mit
den flüchtigen Pfeilen seiner vielgelesenen Satiren noch schärfer
zum Ziel. Wenn also die tüchtigsten Männer der älteren Gene-
ration die Stoa befehdeten, so stand dagegen die jüngere, wie
zum Beispiel Catullus, zu ihr in gar keinem innerlichen Verhält-
niss mehr und kritisirte sie noch bei weitem schärfer durch voll-
ständiges Ignoriren.

Indess wenn hier ein glaubenloser Glaube aus politischer
Convenienz aufrecht erhalten ward, so brachte man dies anders-
wo reichlich wieder ein. Unglaube und Aberglaube, verschiedene
Farbenbrechungen desselben geschichtlichen Phänomens, gingen
auch in der damaligen römischen Welt Hand in Hand und es
fehlte auch nicht an Individuen, welche sie beide in sich vereinig-
ten, mit Epikuros die Götter leugneten und doch vor jeder Ka-

RELIGION.
dem Wege des Synkretismus sich wieder einigen Geist künstlich
einzuflöſsen: Antiochos von Askalon (blüht 675), der mit dem
stoischen System das platonisch-aristotelische zu einer organi-
schen Einheit zusammengeklittert zu haben behauptete, brachte es
in der That dahin, daſs seine miſsgeschaffene Doctrin die Mode-
philosophie der Conservativen seiner Zeit und von den vorneh-
men Dilettanten und Litteraten Roms gewissenhaft studirt ward.
Wer irgend in geistiger Frische sich regte, opponirte der Stoa
oder ignorirte sie. Es war hauptsächlich der Widerwille gegen
die groſsmauligen und langweiligen römischen Pharisäer, daneben
freilich auch die Richtung des geistigen Lebens auf eine schlaffe
Ruhe, dem während dieser Epoche das System Epikurs seine
Ausbreitung in weiteren Kreisen und die diogenische Hundephi-
losophie ihre Einbürgerung in Rom verdankte. Wie matt und
gedankenarm auch jenes sein mochte, eine Philosophie, die nicht
neue Ausdrücke als bessere zu gebrauchen, sondern mit den vor-
handenen sich zu begnügen vorschrieb und durchaus nur die
sinnliche Wahrnehmung als wahr gelten lieſs, war immer noch
besser als das terminologische Geklapper und die hohlen Begriffe
der stoischen Weisheit; und die Hundephilosophie gar war von
allen damaligen philosophischen Systemen insofern bei weitem
das vorzüglichste, als ihr System sich darauf beschränkte gar
kein System zu haben und alle Systeme und Systematiker zu ver-
höhnen. Auf beiden Gebieten wurde gegen die Stoa mit Eifer und
Glück Krieg geführt; für ernste Männer predigte der Epikureer
Lucretius mit dem vollen Accent der innigen Ueberzeugung und
des heiligen Eifers gegen den stoischen Götter - und Vorsehungs-
glauben und die stoische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele;
für das groſse lachbereite Publicum traf der Kyniker Varro mit
den flüchtigen Pfeilen seiner vielgelesenen Satiren noch schärfer
zum Ziel. Wenn also die tüchtigsten Männer der älteren Gene-
ration die Stoa befehdeten, so stand dagegen die jüngere, wie
zum Beispiel Catullus, zu ihr in gar keinem innerlichen Verhält-
niſs mehr und kritisirte sie noch bei weitem schärfer durch voll-
ständiges Ignoriren.

Indeſs wenn hier ein glaubenloser Glaube aus politischer
Convenienz aufrecht erhalten ward, so brachte man dies anders-
wo reichlich wieder ein. Unglaube und Aberglaube, verschiedene
Farbenbrechungen desselben geschichtlichen Phänomens, gingen
auch in der damaligen römischen Welt Hand in Hand und es
fehlte auch nicht an Individuen, welche sie beide in sich vereinig-
ten, mit Epikuros die Götter leugneten und doch vor jeder Ka-

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[527/0537] RELIGION. dem Wege des Synkretismus sich wieder einigen Geist künstlich einzuflöſsen: Antiochos von Askalon (blüht 675), der mit dem stoischen System das platonisch-aristotelische zu einer organi- schen Einheit zusammengeklittert zu haben behauptete, brachte es in der That dahin, daſs seine miſsgeschaffene Doctrin die Mode- philosophie der Conservativen seiner Zeit und von den vorneh- men Dilettanten und Litteraten Roms gewissenhaft studirt ward. Wer irgend in geistiger Frische sich regte, opponirte der Stoa oder ignorirte sie. Es war hauptsächlich der Widerwille gegen die groſsmauligen und langweiligen römischen Pharisäer, daneben freilich auch die Richtung des geistigen Lebens auf eine schlaffe Ruhe, dem während dieser Epoche das System Epikurs seine Ausbreitung in weiteren Kreisen und die diogenische Hundephi- losophie ihre Einbürgerung in Rom verdankte. Wie matt und gedankenarm auch jenes sein mochte, eine Philosophie, die nicht neue Ausdrücke als bessere zu gebrauchen, sondern mit den vor- handenen sich zu begnügen vorschrieb und durchaus nur die sinnliche Wahrnehmung als wahr gelten lieſs, war immer noch besser als das terminologische Geklapper und die hohlen Begriffe der stoischen Weisheit; und die Hundephilosophie gar war von allen damaligen philosophischen Systemen insofern bei weitem das vorzüglichste, als ihr System sich darauf beschränkte gar kein System zu haben und alle Systeme und Systematiker zu ver- höhnen. Auf beiden Gebieten wurde gegen die Stoa mit Eifer und Glück Krieg geführt; für ernste Männer predigte der Epikureer Lucretius mit dem vollen Accent der innigen Ueberzeugung und des heiligen Eifers gegen den stoischen Götter - und Vorsehungs- glauben und die stoische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele; für das groſse lachbereite Publicum traf der Kyniker Varro mit den flüchtigen Pfeilen seiner vielgelesenen Satiren noch schärfer zum Ziel. Wenn also die tüchtigsten Männer der älteren Gene- ration die Stoa befehdeten, so stand dagegen die jüngere, wie zum Beispiel Catullus, zu ihr in gar keinem innerlichen Verhält- niſs mehr und kritisirte sie noch bei weitem schärfer durch voll- ständiges Ignoriren. Indeſs wenn hier ein glaubenloser Glaube aus politischer Convenienz aufrecht erhalten ward, so brachte man dies anders- wo reichlich wieder ein. Unglaube und Aberglaube, verschiedene Farbenbrechungen desselben geschichtlichen Phänomens, gingen auch in der damaligen römischen Welt Hand in Hand und es fehlte auch nicht an Individuen, welche sie beide in sich vereinig- ten, mit Epikuros die Götter leugneten und doch vor jeder Ka-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/537>, abgerufen am 28.03.2024.