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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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LITTERATUR.
an seinen Lippen hangenden grossen und mächtigen römischen
Volksgemeinde. Allein damit war es nun vorbei. Nicht als hätte
es an Rednern gemangelt oder an der Veröffentlichung der vor
der Bürgerschaft gehaltenen Reden; vielmehr ward die politische
Schriftstellerei jetzt erst recht weitläuftig und es fing an zu den
stehenden Tafelbeschwerden zu gehören, dass der Wirth die Gäste
durch Vorlesung seiner neuesten Reden incommodirte. Auch
Publius Clodius liess seine Volksreden als Broschüren ausgehen,
eben wie Gaius Gracchus; aber es ist nicht dasselbe, wenn zwei
Männer dasselbe thun. Die bedeutenderen Führer selbst der Op-
position, vor allem Caesar selbst, sprachen zu der Bürgerschaft
nicht oft und veröffentlichten nicht mehr die vor ihr gehaltenen
Reden; ja sie suchten zum Theil für ihre politischen Flugschriften
sich eine andere Form als die hergebrachte der Contionen, in wel-
cher Hinsicht namentlich die Lob- und Tadelschriften auf Cato (S.
440) bemerkenswerth sind. Es ist das wohl erklärlich. Gaius
Gracchus hatte zur Bürgerschaft gesprochen; jetzt sprach man zu
dem Pöbel; und wie das Publicum, so die Rede. Kein Wunder, wenn
der reputirliche politische Schriftsteller auch die Einkleidung ver-
mied, als seien seine Worte zu den auf dem Markte der Hauptstadt
versammelten Haufen gesprochen. Wenn also die Redeschriftstel-
lerei in ihrer bisherigen litterarischen und politischen Geltung in
derselben Weise verfällt, wie alle naturgemäss aus dem nationalen
Leben entwickelten Zweige der Litteratur, so beginnt zugleich eine
seltsame nicht politische Plaidoyerlitteratur. Bisher hatte man
nichts davon gewusst, dass der Advocatenvortrag als solcher, ausser
für die Richter und die Parteien, auch noch für Mit- und Nachwelt
zur litterarischen Erbauung bestimmt sei; kein Sachwalter hatte
seine Plaidoyers aufgezeichnet und veröffentlicht, wofern dieselben
sich nicht etwa dazu eigneten als politische Parteischriften verbrei-
tet zu werden, und auch dies war nicht gerade häufig geschehen.
Noch Quintus Hortensius (640--704), in den ersten Jahren dieser
Periode der gefeiertste römische Advocat, veröffentlichte nur we-
nige und wie es scheint nur die ganz oder halb politischen Reden.
Erst sein Nachfolger in dem Principal der römischen Sachwalter,
M. Tullius Cicero (648--711) war von Haus aus ebenso sehr
Schriftsteller wie Gerichtsredner; er publicirte seine Plaidoyers
regelmässig und auch dann, wenn sie nicht oder nur entfernt
mit der Politik zusammenhingen. Dies ist nicht Fortschritt,
sondern Unnatur und Verfall. Auch in der attischen Litteratur
ist das Auftreten der geschriebenen nicht politischen Advocaten-
reden unter den Kunstgattungen ein Zeichen der Krankheit; aber

LITTERATUR.
an seinen Lippen hangenden groſsen und mächtigen römischen
Volksgemeinde. Allein damit war es nun vorbei. Nicht als hätte
es an Rednern gemangelt oder an der Veröffentlichung der vor
der Bürgerschaft gehaltenen Reden; vielmehr ward die politische
Schriftstellerei jetzt erst recht weitläuftig und es fing an zu den
stehenden Tafelbeschwerden zu gehören, daſs der Wirth die Gäste
durch Vorlesung seiner neuesten Reden incommodirte. Auch
Publius Clodius lieſs seine Volksreden als Broschüren ausgehen,
eben wie Gaius Gracchus; aber es ist nicht dasselbe, wenn zwei
Männer dasselbe thun. Die bedeutenderen Führer selbst der Op-
position, vor allem Caesar selbst, sprachen zu der Bürgerschaft
nicht oft und veröffentlichten nicht mehr die vor ihr gehaltenen
Reden; ja sie suchten zum Theil für ihre politischen Flugschriften
sich eine andere Form als die hergebrachte der Contionen, in wel-
cher Hinsicht namentlich die Lob- und Tadelschriften auf Cato (S.
440) bemerkenswerth sind. Es ist das wohl erklärlich. Gaius
Gracchus hatte zur Bürgerschaft gesprochen; jetzt sprach man zu
dem Pöbel; und wie das Publicum, so die Rede. Kein Wunder, wenn
der reputirliche politische Schriftsteller auch die Einkleidung ver-
mied, als seien seine Worte zu den auf dem Markte der Hauptstadt
versammelten Haufen gesprochen. Wenn also die Redeschriftstel-
lerei in ihrer bisherigen litterarischen und politischen Geltung in
derselben Weise verfällt, wie alle naturgemäſs aus dem nationalen
Leben entwickelten Zweige der Litteratur, so beginnt zugleich eine
seltsame nicht politische Plaidoyerlitteratur. Bisher hatte man
nichts davon gewuſst, daſs der Advocatenvortrag als solcher, auſser
für die Richter und die Parteien, auch noch für Mit- und Nachwelt
zur litterarischen Erbauung bestimmt sei; kein Sachwalter hatte
seine Plaidoyers aufgezeichnet und veröffentlicht, wofern dieselben
sich nicht etwa dazu eigneten als politische Parteischriften verbrei-
tet zu werden, und auch dies war nicht gerade häufig geschehen.
Noch Quintus Hortensius (640—704), in den ersten Jahren dieser
Periode der gefeiertste römische Advocat, veröffentlichte nur we-
nige und wie es scheint nur die ganz oder halb politischen Reden.
Erst sein Nachfolger in dem Principal der römischen Sachwalter,
M. Tullius Cicero (648—711) war von Haus aus ebenso sehr
Schriftsteller wie Gerichtsredner; er publicirte seine Plaidoyers
regelmäſsig und auch dann, wenn sie nicht oder nur entfernt
mit der Politik zusammenhingen. Dies ist nicht Fortschritt,
sondern Unnatur und Verfall. Auch in der attischen Litteratur
ist das Auftreten der geschriebenen nicht politischen Advocaten-
reden unter den Kunstgattungen ein Zeichen der Krankheit; aber

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[571/0581] LITTERATUR. an seinen Lippen hangenden groſsen und mächtigen römischen Volksgemeinde. Allein damit war es nun vorbei. Nicht als hätte es an Rednern gemangelt oder an der Veröffentlichung der vor der Bürgerschaft gehaltenen Reden; vielmehr ward die politische Schriftstellerei jetzt erst recht weitläuftig und es fing an zu den stehenden Tafelbeschwerden zu gehören, daſs der Wirth die Gäste durch Vorlesung seiner neuesten Reden incommodirte. Auch Publius Clodius lieſs seine Volksreden als Broschüren ausgehen, eben wie Gaius Gracchus; aber es ist nicht dasselbe, wenn zwei Männer dasselbe thun. Die bedeutenderen Führer selbst der Op- position, vor allem Caesar selbst, sprachen zu der Bürgerschaft nicht oft und veröffentlichten nicht mehr die vor ihr gehaltenen Reden; ja sie suchten zum Theil für ihre politischen Flugschriften sich eine andere Form als die hergebrachte der Contionen, in wel- cher Hinsicht namentlich die Lob- und Tadelschriften auf Cato (S. 440) bemerkenswerth sind. Es ist das wohl erklärlich. Gaius Gracchus hatte zur Bürgerschaft gesprochen; jetzt sprach man zu dem Pöbel; und wie das Publicum, so die Rede. Kein Wunder, wenn der reputirliche politische Schriftsteller auch die Einkleidung ver- mied, als seien seine Worte zu den auf dem Markte der Hauptstadt versammelten Haufen gesprochen. Wenn also die Redeschriftstel- lerei in ihrer bisherigen litterarischen und politischen Geltung in derselben Weise verfällt, wie alle naturgemäſs aus dem nationalen Leben entwickelten Zweige der Litteratur, so beginnt zugleich eine seltsame nicht politische Plaidoyerlitteratur. Bisher hatte man nichts davon gewuſst, daſs der Advocatenvortrag als solcher, auſser für die Richter und die Parteien, auch noch für Mit- und Nachwelt zur litterarischen Erbauung bestimmt sei; kein Sachwalter hatte seine Plaidoyers aufgezeichnet und veröffentlicht, wofern dieselben sich nicht etwa dazu eigneten als politische Parteischriften verbrei- tet zu werden, und auch dies war nicht gerade häufig geschehen. Noch Quintus Hortensius (640—704), in den ersten Jahren dieser Periode der gefeiertste römische Advocat, veröffentlichte nur we- nige und wie es scheint nur die ganz oder halb politischen Reden. Erst sein Nachfolger in dem Principal der römischen Sachwalter, M. Tullius Cicero (648—711) war von Haus aus ebenso sehr Schriftsteller wie Gerichtsredner; er publicirte seine Plaidoyers regelmäſsig und auch dann, wenn sie nicht oder nur entfernt mit der Politik zusammenhingen. Dies ist nicht Fortschritt, sondern Unnatur und Verfall. Auch in der attischen Litteratur ist das Auftreten der geschriebenen nicht politischen Advocaten- reden unter den Kunstgattungen ein Zeichen der Krankheit; aber

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/581>, abgerufen am 16.04.2024.