Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

die hohe dichterische Darstellung desjenigen, was
in der ganzen Natur mit unwiderstehlichem Reitze
unaufhörlich fortwirkt, unbekümmert, ob es Spu-
ren blutiger Kriege oder glücklich durchlebter Men-
schenalter hinter sich zurück läßt. --

Ueberhaupt ist es das Mangelhafte, oder die
gleichsam fehlenden Züge, in den Erscheinungen
der Göttergestalten, was denselben den höchsten
Reitz giebt, und wodurch eben diese Dichtungen
ineinander verflochten werden.

Der hohen Juno mangelt es an sanftem Lieb-
reitz; sie muß den Gürtel der Venus borgen. -- Die
überlegende Weisheit fehlt dem mächtigen Krieges-
gotte; Minerva lenkt seinen Ungestüm.

Venus besitzt den höchsten Liebreitz; aber Mi-
nerva, der es ganz an weiblicher Zärtlichkeit man-
gelt, ist ihr an Macht weit überlegen. Im Tref-
fen vor Troja, wo zuletzt die Götter selber sich
zum Streit auffordern, und Venus den Trojanern,
Minerva den Griechen beisteht, giebt Minerva
der Venus, die dem Mars zu Hülfe eilt, mit
starker Hand einen Schlag auf die Brust, daß
ihre Knie sinken; und Minerva sagt triumphie-
rend: mögen doch alle, die den Trojanern beiste-
hen, der Venus an Tapferkeit und Kühnheit glei-
chen!

Als Venus vom Diomed in die Hand ver-
wundet gen Himmel stieg, und bei ihrer Mutter

die hohe dichteriſche Darſtellung desjenigen, was
in der ganzen Natur mit unwiderſtehlichem Reitze
unaufhoͤrlich fortwirkt, unbekuͤmmert, ob es Spu-
ren blutiger Kriege oder gluͤcklich durchlebter Men-
ſchenalter hinter ſich zuruͤck laͤßt. —

Ueberhaupt iſt es das Mangelhafte, oder die
gleichſam fehlenden Zuͤge, in den Erſcheinungen
der Goͤttergeſtalten, was denſelben den hoͤchſten
Reitz giebt, und wodurch eben dieſe Dichtungen
ineinander verflochten werden.

Der hohen Juno mangelt es an ſanftem Lieb-
reitz; ſie muß den Guͤrtel der Venus borgen. — Die
uͤberlegende Weisheit fehlt dem maͤchtigen Krieges-
gotte; Minerva lenkt ſeinen Ungeſtuͤm.

Venus beſitzt den hoͤchſten Liebreitz; aber Mi-
nerva, der es ganz an weiblicher Zaͤrtlichkeit man-
gelt, iſt ihr an Macht weit uͤberlegen. Im Tref-
fen vor Troja, wo zuletzt die Goͤtter ſelber ſich
zum Streit auffordern, und Venus den Trojanern,
Minerva den Griechen beiſteht, giebt Minerva
der Venus, die dem Mars zu Huͤlfe eilt, mit
ſtarker Hand einen Schlag auf die Bruſt, daß
ihre Knie ſinken; und Minerva ſagt triumphie-
rend: moͤgen doch alle, die den Trojanern beiſte-
hen, der Venus an Tapferkeit und Kuͤhnheit glei-
chen!

Als Venus vom Diomed in die Hand ver-
wundet gen Himmel ſtieg, und bei ihrer Mutter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0171" n="133"/>
die hohe dichteri&#x017F;che Dar&#x017F;tellung desjenigen, was<lb/>
in der ganzen Natur mit unwider&#x017F;tehlichem Reitze<lb/>
unaufho&#x0364;rlich fortwirkt, unbeku&#x0364;mmert, ob es Spu-<lb/>
ren blutiger Kriege oder glu&#x0364;cklich durchlebter Men-<lb/>
&#x017F;chenalter hinter &#x017F;ich zuru&#x0364;ck la&#x0364;ßt. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Ueberhaupt i&#x017F;t es das Mangelhafte, oder die<lb/>
gleich&#x017F;am <hi rendition="#fr">fehlenden</hi> Zu&#x0364;ge, in den Er&#x017F;cheinungen<lb/>
der Go&#x0364;tterge&#x017F;talten, was den&#x017F;elben den ho&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
Reitz giebt, und wodurch eben die&#x017F;e Dichtungen<lb/>
ineinander verflochten werden.</p><lb/>
          <p>Der hohen Juno mangelt es an &#x017F;anftem Lieb-<lb/>
reitz; &#x017F;ie muß den Gu&#x0364;rtel der Venus borgen. &#x2014; Die<lb/>
u&#x0364;berlegende Weisheit fehlt dem ma&#x0364;chtigen Krieges-<lb/>
gotte; Minerva lenkt &#x017F;einen Unge&#x017F;tu&#x0364;m.</p><lb/>
          <p>Venus be&#x017F;itzt den ho&#x0364;ch&#x017F;ten Liebreitz; aber Mi-<lb/>
nerva, der es ganz an weiblicher Za&#x0364;rtlichkeit man-<lb/>
gelt, i&#x017F;t ihr an Macht weit u&#x0364;berlegen. Im Tref-<lb/>
fen vor Troja, wo zuletzt die Go&#x0364;tter &#x017F;elber &#x017F;ich<lb/>
zum Streit auffordern, und Venus den Trojanern,<lb/>
Minerva den Griechen bei&#x017F;teht, giebt Minerva<lb/>
der Venus, die dem Mars zu Hu&#x0364;lfe eilt, mit<lb/>
&#x017F;tarker Hand einen Schlag auf die Bru&#x017F;t, daß<lb/>
ihre Knie &#x017F;inken; und Minerva &#x017F;agt triumphie-<lb/>
rend: mo&#x0364;gen doch alle, die den Trojanern bei&#x017F;te-<lb/>
hen, der Venus an Tapferkeit und Ku&#x0364;hnheit glei-<lb/>
chen!</p><lb/>
          <p>Als Venus vom Diomed in die Hand ver-<lb/>
wundet gen Himmel &#x017F;tieg, und bei ihrer Mutter<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0171] die hohe dichteriſche Darſtellung desjenigen, was in der ganzen Natur mit unwiderſtehlichem Reitze unaufhoͤrlich fortwirkt, unbekuͤmmert, ob es Spu- ren blutiger Kriege oder gluͤcklich durchlebter Men- ſchenalter hinter ſich zuruͤck laͤßt. — Ueberhaupt iſt es das Mangelhafte, oder die gleichſam fehlenden Zuͤge, in den Erſcheinungen der Goͤttergeſtalten, was denſelben den hoͤchſten Reitz giebt, und wodurch eben dieſe Dichtungen ineinander verflochten werden. Der hohen Juno mangelt es an ſanftem Lieb- reitz; ſie muß den Guͤrtel der Venus borgen. — Die uͤberlegende Weisheit fehlt dem maͤchtigen Krieges- gotte; Minerva lenkt ſeinen Ungeſtuͤm. Venus beſitzt den hoͤchſten Liebreitz; aber Mi- nerva, der es ganz an weiblicher Zaͤrtlichkeit man- gelt, iſt ihr an Macht weit uͤberlegen. Im Tref- fen vor Troja, wo zuletzt die Goͤtter ſelber ſich zum Streit auffordern, und Venus den Trojanern, Minerva den Griechen beiſteht, giebt Minerva der Venus, die dem Mars zu Huͤlfe eilt, mit ſtarker Hand einen Schlag auf die Bruſt, daß ihre Knie ſinken; und Minerva ſagt triumphie- rend: moͤgen doch alle, die den Trojanern beiſte- hen, der Venus an Tapferkeit und Kuͤhnheit glei- chen! Als Venus vom Diomed in die Hand ver- wundet gen Himmel ſtieg, und bei ihrer Mutter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/171
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/171>, abgerufen am 23.04.2024.