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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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An diese alte Sage knüpften sich die Begriffe
von Entstehung und Erzeugung des Gebildeten
an. -- Es war die Mutter aller Dinge, wel-
che die zerstörende Obermacht zu täuschen, das
zarte Gebildete vom Untergange zu retten, und
es heimlich und sorgsam zu pflegen wußte; so wie
die allbefruchtende Natur es mit dem zarten
Keime macht, den sie im Schooß der Erde vor
Wind und Stürmen schützt.

So war das Urbild der Cybele die große
Erzeugungskraft, die alle Naturen bändigt; den
Löwen zähmt; den Schooß der Erde befruchtet. --
Man dachte sie sich, als die Beherrscherin der Ele-
mente; den Anfang aller Zeiten; die höchste Him-
melsgöttin; die Königin der Unterwelt; und sel-
ber als das Urbild jeder Gottheit, die wegen der
immer herrschenden, erzeugenden und gebähren-
den Kraft, in ihr sich weiblich darstellt.

Ob aber gleich diese Göttin auf einem mit
Löwen bespannten Wagen, und mit einer Mauer-
oder Thurmkrone auf dem Haupte abgebildet wur-
de, wodurch ihre alles bändigende Macht, und
zugleich ihre Herrschaft über den mit Städten
besäeten Erdkreis dargestellt werden sollte; so war
doch diese Abbildung gleichsam nur eine äußere
Ueberkleidung ihres unbegreiflichen gestaltlosen
Wesens, welches man sich grade unter dem Un-
förmlichen
am ehrwürdigsten dachte. --

An dieſe alte Sage knuͤpften ſich die Begriffe
von Entſtehung und Erzeugung des Gebildeten
an. — Es war die Mutter aller Dinge, wel-
che die zerſtoͤrende Obermacht zu taͤuſchen, das
zarte Gebildete vom Untergange zu retten, und
es heimlich und ſorgſam zu pflegen wußte; ſo wie
die allbefruchtende Natur es mit dem zarten
Keime macht, den ſie im Schooß der Erde vor
Wind und Stuͤrmen ſchuͤtzt.

So war das Urbild der Cybele die große
Erzeugungskraft, die alle Naturen baͤndigt; den
Loͤwen zaͤhmt; den Schooß der Erde befruchtet. —
Man dachte ſie ſich, als die Beherrſcherin der Ele-
mente; den Anfang aller Zeiten; die hoͤchſte Him-
melsgoͤttin; die Koͤnigin der Unterwelt; und ſel-
ber als das Urbild jeder Gottheit, die wegen der
immer herrſchenden, erzeugenden und gebaͤhren-
den Kraft, in ihr ſich weiblich darſtellt.

Ob aber gleich dieſe Goͤttin auf einem mit
Loͤwen beſpannten Wagen, und mit einer Mauer-
oder Thurmkrone auf dem Haupte abgebildet wur-
de, wodurch ihre alles baͤndigende Macht, und
zugleich ihre Herrſchaft uͤber den mit Staͤdten
beſaͤeten Erdkreis dargeſtellt werden ſollte; ſo war
doch dieſe Abbildung gleichſam nur eine aͤußere
Ueberkleidung ihres unbegreiflichen geſtaltloſen
Weſens, welches man ſich grade unter dem Un-
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am ehrwuͤrdigſten dachte. —

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[165/0211] An dieſe alte Sage knuͤpften ſich die Begriffe von Entſtehung und Erzeugung des Gebildeten an. — Es war die Mutter aller Dinge, wel- che die zerſtoͤrende Obermacht zu taͤuſchen, das zarte Gebildete vom Untergange zu retten, und es heimlich und ſorgſam zu pflegen wußte; ſo wie die allbefruchtende Natur es mit dem zarten Keime macht, den ſie im Schooß der Erde vor Wind und Stuͤrmen ſchuͤtzt. So war das Urbild der Cybele die große Erzeugungskraft, die alle Naturen baͤndigt; den Loͤwen zaͤhmt; den Schooß der Erde befruchtet. — Man dachte ſie ſich, als die Beherrſcherin der Ele- mente; den Anfang aller Zeiten; die hoͤchſte Him- melsgoͤttin; die Koͤnigin der Unterwelt; und ſel- ber als das Urbild jeder Gottheit, die wegen der immer herrſchenden, erzeugenden und gebaͤhren- den Kraft, in ihr ſich weiblich darſtellt. Ob aber gleich dieſe Goͤttin auf einem mit Loͤwen beſpannten Wagen, und mit einer Mauer- oder Thurmkrone auf dem Haupte abgebildet wur- de, wodurch ihre alles baͤndigende Macht, und zugleich ihre Herrſchaft uͤber den mit Staͤdten beſaͤeten Erdkreis dargeſtellt werden ſollte; ſo war doch dieſe Abbildung gleichſam nur eine aͤußere Ueberkleidung ihres unbegreiflichen geſtaltloſen Weſens, welches man ſich grade unter dem Un- foͤrmlichen am ehrwuͤrdigſten dachte. —

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/211>, abgerufen am 19.04.2024.