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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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lebendigen Erfahrung seiner Phantasie darauf gekommen
seyn.

"Je größer das Talent, je entschiedener bildet sich
gleich anfangs das zu producirende Bild. Man sehe Zeich-
nungen von Raphael und Michel Angelo, wo auf
der Stelle ein strenger Umriß das, was dargestellt wer-
den soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfaßt. Da-
gegen werden spätere, obgleich treffliche Künstler auf einer
Art von Tasten ertappt, es ist öfter, als wenn sie erst
durch leichte aber gleichgültige Züge aufs Papier ein Ele-
ment erschaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar,
Gestalt und Gewand und was sonst noch wie aus dem Ei
das Hühnchen sich bilden solle." Goethe zur Morpho-
logie II. B. 2. H. 1824. S. 114. Hier mögen wir uns
denn jenes alten Künstlers erinnern, von dem es heißt:
Concipiendis visionibus, quas phantasias vocant, Theon
Samius
praestantissimus. Quintil. XII.
10. 6.



XIII. Aussicht auf die Phantasmen der
anderen Sinne
.
152.

Wenn die phantastischen Gesichtserscheinungen die häu-
figsten sind, so fehlen die Phantasmen doch auch nicht in
den anderen Sinnen und sie kommen hier unter denselben
Bedingungen vor; auch gilt es von den Gehörphantasmen,
daß sie ohne Affection des äußern Sinnesorganes selbst be-
stehen können und nur durch Affection der innersten Ur-
sprünge der Hörsinnsubstanz entstehen. Denn Esquirol
hat Fälle beobachtet, wo bei Tauben noch phantastische
Gehörempfindungen vorkamen.


lebendigen Erfahrung ſeiner Phantaſie darauf gekommen
ſeyn.

»Je groͤßer das Talent, je entſchiedener bildet ſich
gleich anfangs das zu producirende Bild. Man ſehe Zeich-
nungen von Raphael und Michel Angelo, wo auf
der Stelle ein ſtrenger Umriß das, was dargeſtellt wer-
den ſoll, vom Grunde losloͤſt und koͤrperlich einfaßt. Da-
gegen werden ſpaͤtere, obgleich treffliche Kuͤnſtler auf einer
Art von Taſten ertappt, es iſt oͤfter, als wenn ſie erſt
durch leichte aber gleichguͤltige Zuͤge aufs Papier ein Ele-
ment erſchaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar,
Geſtalt und Gewand und was ſonſt noch wie aus dem Ei
das Huͤhnchen ſich bilden ſolle.« Goethe zur Morpho-
logie II. B. 2. H. 1824. S. 114. Hier moͤgen wir uns
denn jenes alten Kuͤnſtlers erinnern, von dem es heißt:
Concipiendis visionibus, quas phantasias vocant, Theon
Samius
praestantissimus. Quintil. XII.
10. 6.



XIII. Ausſicht auf die Phantasmen der
anderen Sinne
.
152.

Wenn die phantaſtiſchen Geſichtserſcheinungen die haͤu-
figſten ſind, ſo fehlen die Phantasmen doch auch nicht in
den anderen Sinnen und ſie kommen hier unter denſelben
Bedingungen vor; auch gilt es von den Gehoͤrphantasmen,
daß ſie ohne Affection des aͤußern Sinnesorganes ſelbſt be-
ſtehen koͤnnen und nur durch Affection der innerſten Ur-
ſpruͤnge der Hoͤrſinnſubſtanz entſtehen. Denn Esquirol
hat Faͤlle beobachtet, wo bei Tauben noch phantaſtiſche
Gehoͤrempfindungen vorkamen.


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[84/0100] lebendigen Erfahrung ſeiner Phantaſie darauf gekommen ſeyn. »Je groͤßer das Talent, je entſchiedener bildet ſich gleich anfangs das zu producirende Bild. Man ſehe Zeich- nungen von Raphael und Michel Angelo, wo auf der Stelle ein ſtrenger Umriß das, was dargeſtellt wer- den ſoll, vom Grunde losloͤſt und koͤrperlich einfaßt. Da- gegen werden ſpaͤtere, obgleich treffliche Kuͤnſtler auf einer Art von Taſten ertappt, es iſt oͤfter, als wenn ſie erſt durch leichte aber gleichguͤltige Zuͤge aufs Papier ein Ele- ment erſchaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar, Geſtalt und Gewand und was ſonſt noch wie aus dem Ei das Huͤhnchen ſich bilden ſolle.« Goethe zur Morpho- logie II. B. 2. H. 1824. S. 114. Hier moͤgen wir uns denn jenes alten Kuͤnſtlers erinnern, von dem es heißt: Concipiendis visionibus, quas phantasias vocant, Theon Samius praestantissimus. Quintil. XII. 10. 6. XIII. Ausſicht auf die Phantasmen der anderen Sinne. 152. Wenn die phantaſtiſchen Geſichtserſcheinungen die haͤu- figſten ſind, ſo fehlen die Phantasmen doch auch nicht in den anderen Sinnen und ſie kommen hier unter denſelben Bedingungen vor; auch gilt es von den Gehoͤrphantasmen, daß ſie ohne Affection des aͤußern Sinnesorganes ſelbſt be- ſtehen koͤnnen und nur durch Affection der innerſten Ur- ſpruͤnge der Hoͤrſinnſubſtanz entſtehen. Denn Esquirol hat Faͤlle beobachtet, wo bei Tauben noch phantaſtiſche Gehoͤrempfindungen vorkamen.

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/100>, abgerufen am 29.03.2024.