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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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ihm so gut wie das Bild seines eignen Körpers auf seiner
Haut zu liegen scheinen. Aber es kömmt bald dahin, daß
auch er wie wir gezwungen ist, die eigenen durch ein Aeußeres
erregten Sinnesaffectionen für die gegenüberstehende äu-
ßere Natur selbst zu halten.

163.

In allem dem sind wir nicht rein sinnlich; denn in keiner
Sinnestäuschung irrt die Sinnlichkeit. Der Sinn ist immer
wahr und nothwendig wirkend, nur der Verstand irrt. Es
ist ebenso im Moralischen. Unsere Organe wollen in Affection
seyn. Sind sie es nicht für das gedachte Gute, bist du
sinnlicher Mensch, der du dich freuen sollst und freuest
der schönen Gabe der Sinnlichkeit, nicht sinnlich für das
gedachte Gute, so bist du es dennoch, du mußt es seyn für
das Böse. Auch in dem letztern ist nicht die Sinnlichkeit
der Sündenbock, die genießt in der Schuld, wie in der
Unschuld mit gleicher Unbefangenheit der Empfindung. Die
Schuld tritt ein, wo unsere Organe afficirt werden, ohne
daß der freie Wille für das Gute vorhanden ist, wo nicht
genoßen werden kann ohne das Schweigen, ohne das Ver-
geben der sittlichen Freiheit.



ihm ſo gut wie das Bild ſeines eignen Koͤrpers auf ſeiner
Haut zu liegen ſcheinen. Aber es koͤmmt bald dahin, daß
auch er wie wir gezwungen iſt, die eigenen durch ein Aeußeres
erregten Sinnesaffectionen fuͤr die gegenuͤberſtehende aͤu-
ßere Natur ſelbſt zu halten.

163.

In allem dem ſind wir nicht rein ſinnlich; denn in keiner
Sinnestaͤuſchung irrt die Sinnlichkeit. Der Sinn iſt immer
wahr und nothwendig wirkend, nur der Verſtand irrt. Es
iſt ebenſo im Moraliſchen. Unſere Organe wollen in Affection
ſeyn. Sind ſie es nicht fuͤr das gedachte Gute, biſt du
ſinnlicher Menſch, der du dich freuen ſollſt und freueſt
der ſchoͤnen Gabe der Sinnlichkeit, nicht ſinnlich fuͤr das
gedachte Gute, ſo biſt du es dennoch, du mußt es ſeyn fuͤr
das Boͤſe. Auch in dem letztern iſt nicht die Sinnlichkeit
der Suͤndenbock, die genießt in der Schuld, wie in der
Unſchuld mit gleicher Unbefangenheit der Empfindung. Die
Schuld tritt ein, wo unſere Organe afficirt werden, ohne
daß der freie Wille fuͤr das Gute vorhanden iſt, wo nicht
genoßen werden kann ohne das Schweigen, ohne das Ver-
geben der ſittlichen Freiheit.



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[89/0105] ihm ſo gut wie das Bild ſeines eignen Koͤrpers auf ſeiner Haut zu liegen ſcheinen. Aber es koͤmmt bald dahin, daß auch er wie wir gezwungen iſt, die eigenen durch ein Aeußeres erregten Sinnesaffectionen fuͤr die gegenuͤberſtehende aͤu- ßere Natur ſelbſt zu halten. 163. In allem dem ſind wir nicht rein ſinnlich; denn in keiner Sinnestaͤuſchung irrt die Sinnlichkeit. Der Sinn iſt immer wahr und nothwendig wirkend, nur der Verſtand irrt. Es iſt ebenſo im Moraliſchen. Unſere Organe wollen in Affection ſeyn. Sind ſie es nicht fuͤr das gedachte Gute, biſt du ſinnlicher Menſch, der du dich freuen ſollſt und freueſt der ſchoͤnen Gabe der Sinnlichkeit, nicht ſinnlich fuͤr das gedachte Gute, ſo biſt du es dennoch, du mußt es ſeyn fuͤr das Boͤſe. Auch in dem letztern iſt nicht die Sinnlichkeit der Suͤndenbock, die genießt in der Schuld, wie in der Unſchuld mit gleicher Unbefangenheit der Empfindung. Die Schuld tritt ein, wo unſere Organe afficirt werden, ohne daß der freie Wille fuͤr das Gute vorhanden iſt, wo nicht genoßen werden kann ohne das Schweigen, ohne das Ver- geben der ſittlichen Freiheit.

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/105>, abgerufen am 25.04.2024.