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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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lend, kann in diesem durch die bloße Vorstellung einer Be-
grenzung im dunkeln Sehfeld Formen ersinnen, die wir nie
gesehen, nie objectiv sehen werden. Da auch alle äußeren sicht-
baren Formen nur als Begrenzung in diesem dunkeln Seh-
feld erscheinen, alle mögliche Begrenzung aber im dunkeln
Sehfeld gedacht werden kann, so sind auch alle möglichen
Formen der Phantasie erreichbar, ehe sie ihre Elemente in
der äußern sinnlichen Welt gefunden hat, wie wir dann
auch von jenem im ersten Jahre des Lebens erblindeten Flö-
tenspieler lesen, daß er gräßliche und verzerrte Gestalten
in seinen Träumen sah.

177.

Es kömmt hier vor allen Dingen darauf an, das Ei-
genleben der Phantasie unvermischt, ungetrübt durch andere
Geistesfunctionen festzuhalten, und so erscheint denn die
Phantasie ohne anderweitigen Antrieb in dem Zustand des
Halbwachens, wo nur sie allein thätig ist, als ein im
Sehfeld Gestaltendes, seine Gestalten immer Veränderndes,
zusammenziehend, erweitend, das Ganze auf Theile redu-
cirend, den Theil zu einem neuen Ganzen entwickelnd, das
Ganze wieder beschränkend u. s. f., in Allem dem ein rastlo-
ser Proteus, zuerst nur Grenzen ziehend im dunkeln Seh-
feld, dann sein Geschaffenes leuchtend in den Energieen des-
sen, dem die Gestalt eingebildet ist, hervorhebend. Hier,
wo wir die Phantasie allein thätig, ihrem eigenen Formen-
spiele hingegeben, nackt und bloß und wie im Neglige belau-
schen, ist sie nach keinem andern Gesetz thätig als nach dem
früher aufgestellten allgemeinen der Metamorphose.

178.

Dann wird zu erwähnen seyn, wie die Energieen an-
derer Organe auf das Eigenleben der Phantasie Einfluß
haben. Alle Reizungen aus andern Organen werden zwar,
auf das Phantasticon wirkend, dieses nur sollicitiren können

lend, kann in dieſem durch die bloße Vorſtellung einer Be-
grenzung im dunkeln Sehfeld Formen erſinnen, die wir nie
geſehen, nie objectiv ſehen werden. Da auch alle aͤußeren ſicht-
baren Formen nur als Begrenzung in dieſem dunkeln Seh-
feld erſcheinen, alle moͤgliche Begrenzung aber im dunkeln
Sehfeld gedacht werden kann, ſo ſind auch alle moͤglichen
Formen der Phantaſie erreichbar, ehe ſie ihre Elemente in
der aͤußern ſinnlichen Welt gefunden hat, wie wir dann
auch von jenem im erſten Jahre des Lebens erblindeten Floͤ-
tenſpieler leſen, daß er graͤßliche und verzerrte Geſtalten
in ſeinen Traͤumen ſah.

177.

Es koͤmmt hier vor allen Dingen darauf an, das Ei-
genleben der Phantaſie unvermiſcht, ungetruͤbt durch andere
Geiſtesfunctionen feſtzuhalten, und ſo erſcheint denn die
Phantaſie ohne anderweitigen Antrieb in dem Zuſtand des
Halbwachens, wo nur ſie allein thaͤtig iſt, als ein im
Sehfeld Geſtaltendes, ſeine Geſtalten immer Veraͤnderndes,
zuſammenziehend, erweitend, das Ganze auf Theile redu-
cirend, den Theil zu einem neuen Ganzen entwickelnd, das
Ganze wieder beſchraͤnkend u. ſ. f., in Allem dem ein raſtlo-
ſer Proteus, zuerſt nur Grenzen ziehend im dunkeln Seh-
feld, dann ſein Geſchaffenes leuchtend in den Energieen deſ-
ſen, dem die Geſtalt eingebildet iſt, hervorhebend. Hier,
wo wir die Phantaſie allein thaͤtig, ihrem eigenen Formen-
ſpiele hingegeben, nackt und bloß und wie im Negligé belau-
ſchen, iſt ſie nach keinem andern Geſetz thaͤtig als nach dem
fruͤher aufgeſtellten allgemeinen der Metamorphoſe.

178.

Dann wird zu erwaͤhnen ſeyn, wie die Energieen an-
derer Organe auf das Eigenleben der Phantaſie Einfluß
haben. Alle Reizungen aus andern Organen werden zwar,
auf das Phantaſticon wirkend, dieſes nur ſollicitiren koͤnnen

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[100/0116] lend, kann in dieſem durch die bloße Vorſtellung einer Be- grenzung im dunkeln Sehfeld Formen erſinnen, die wir nie geſehen, nie objectiv ſehen werden. Da auch alle aͤußeren ſicht- baren Formen nur als Begrenzung in dieſem dunkeln Seh- feld erſcheinen, alle moͤgliche Begrenzung aber im dunkeln Sehfeld gedacht werden kann, ſo ſind auch alle moͤglichen Formen der Phantaſie erreichbar, ehe ſie ihre Elemente in der aͤußern ſinnlichen Welt gefunden hat, wie wir dann auch von jenem im erſten Jahre des Lebens erblindeten Floͤ- tenſpieler leſen, daß er graͤßliche und verzerrte Geſtalten in ſeinen Traͤumen ſah. 177. Es koͤmmt hier vor allen Dingen darauf an, das Ei- genleben der Phantaſie unvermiſcht, ungetruͤbt durch andere Geiſtesfunctionen feſtzuhalten, und ſo erſcheint denn die Phantaſie ohne anderweitigen Antrieb in dem Zuſtand des Halbwachens, wo nur ſie allein thaͤtig iſt, als ein im Sehfeld Geſtaltendes, ſeine Geſtalten immer Veraͤnderndes, zuſammenziehend, erweitend, das Ganze auf Theile redu- cirend, den Theil zu einem neuen Ganzen entwickelnd, das Ganze wieder beſchraͤnkend u. ſ. f., in Allem dem ein raſtlo- ſer Proteus, zuerſt nur Grenzen ziehend im dunkeln Seh- feld, dann ſein Geſchaffenes leuchtend in den Energieen deſ- ſen, dem die Geſtalt eingebildet iſt, hervorhebend. Hier, wo wir die Phantaſie allein thaͤtig, ihrem eigenen Formen- ſpiele hingegeben, nackt und bloß und wie im Negligé belau- ſchen, iſt ſie nach keinem andern Geſetz thaͤtig als nach dem fruͤher aufgeſtellten allgemeinen der Metamorphoſe. 178. Dann wird zu erwaͤhnen ſeyn, wie die Energieen an- derer Organe auf das Eigenleben der Phantaſie Einfluß haben. Alle Reizungen aus andern Organen werden zwar, auf das Phantaſticon wirkend, dieſes nur ſollicitiren koͤnnen

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/116>, abgerufen am 16.04.2024.