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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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ist eine solche durchgängige Veränderung der Form in der
Sphäre des Begriffs nach dem Einen. Dergleichen Vorstel-
lungen einer spielenden Phantasie sind dem vergleichenden
Betrachter der Naturformen ein Widriges, mit dem Leben
seiner Phantasie nicht mehr Verträgliches.

187.

Ist aber das Bildungsgesetz eines Theiles erkannt,
weißt du, wie der Schädel, nach nothwendigen Gesetzen sich
entwickelnd, sich nur zur Menschenform steigern kann, so
kannst du, in denselben Gesetzen dich bewegend, die Schädel-
form über das Natürliche ausbilden und veredlen, bleibt
deine Phantasie nur in der Sphäre des Begriffes. Nach
denselben Gesetzen veredelt, wie der Menschenschädel sich aus
den Thierformen veredelt, ist der Kopf der Antike als
bloße Form selbst schöner als das Natürliche.

Die Griechen haben schwerlich diese Richtschnur der
Bildung durch Messungen, wie Peter Camper, oder auf
einem wissenschaftlichen Wege gefunden. Aber ihr Handeln
gründete sich auf eine unbewußte tiefe Anschauung der Na-
tur und ihrer im Begriff beweglichen Bildung, sie verfuh-
ren darin keineswegs willkührlich und auf gutes Glück,
wenn es ihnen gelang, wirklich eine noch schönere und ideale
Menschenform bildend zu erreichen.

34.

Hier zeigt sich denn, wo das Phantasieleben des Künst-
lers und des vergleichenden Naturforschers in gemeinsamem
Gebiet sich berühren, und auch auseinander gehen. In bei-
den bewegt sich das plastische Phantasieleben nur innerhalb
der Sphäre des Begriffs. Der Naturforscher spricht das
Gesetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er sieht
es nur in dem Wirklichen und Natürlichen ver-
wirklicht. Die Phantasie des Künstlers ist auch nur in

iſt eine ſolche durchgaͤngige Veraͤnderung der Form in der
Sphaͤre des Begriffs nach dem Einen. Dergleichen Vorſtel-
lungen einer ſpielenden Phantaſie ſind dem vergleichenden
Betrachter der Naturformen ein Widriges, mit dem Leben
ſeiner Phantaſie nicht mehr Vertraͤgliches.

187.

Iſt aber das Bildungsgeſetz eines Theiles erkannt,
weißt du, wie der Schaͤdel, nach nothwendigen Geſetzen ſich
entwickelnd, ſich nur zur Menſchenform ſteigern kann, ſo
kannſt du, in denſelben Geſetzen dich bewegend, die Schaͤdel-
form uͤber das Natuͤrliche ausbilden und veredlen, bleibt
deine Phantaſie nur in der Sphaͤre des Begriffes. Nach
denſelben Geſetzen veredelt, wie der Menſchenſchaͤdel ſich aus
den Thierformen veredelt, iſt der Kopf der Antike als
bloße Form ſelbſt ſchoͤner als das Natuͤrliche.

Die Griechen haben ſchwerlich dieſe Richtſchnur der
Bildung durch Meſſungen, wie Peter Camper, oder auf
einem wiſſenſchaftlichen Wege gefunden. Aber ihr Handeln
gruͤndete ſich auf eine unbewußte tiefe Anſchauung der Na-
tur und ihrer im Begriff beweglichen Bildung, ſie verfuh-
ren darin keineswegs willkuͤhrlich und auf gutes Gluͤck,
wenn es ihnen gelang, wirklich eine noch ſchoͤnere und ideale
Menſchenform bildend zu erreichen.

34.

Hier zeigt ſich denn, wo das Phantaſieleben des Kuͤnſt-
lers und des vergleichenden Naturforſchers in gemeinſamem
Gebiet ſich beruͤhren, und auch auseinander gehen. In bei-
den bewegt ſich das plaſtiſche Phantaſieleben nur innerhalb
der Sphaͤre des Begriffs. Der Naturforſcher ſpricht das
Geſetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er ſieht
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wirklicht. Die Phantaſie des Kuͤnſtlers iſt auch nur in

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[105/0121] iſt eine ſolche durchgaͤngige Veraͤnderung der Form in der Sphaͤre des Begriffs nach dem Einen. Dergleichen Vorſtel- lungen einer ſpielenden Phantaſie ſind dem vergleichenden Betrachter der Naturformen ein Widriges, mit dem Leben ſeiner Phantaſie nicht mehr Vertraͤgliches. 187. Iſt aber das Bildungsgeſetz eines Theiles erkannt, weißt du, wie der Schaͤdel, nach nothwendigen Geſetzen ſich entwickelnd, ſich nur zur Menſchenform ſteigern kann, ſo kannſt du, in denſelben Geſetzen dich bewegend, die Schaͤdel- form uͤber das Natuͤrliche ausbilden und veredlen, bleibt deine Phantaſie nur in der Sphaͤre des Begriffes. Nach denſelben Geſetzen veredelt, wie der Menſchenſchaͤdel ſich aus den Thierformen veredelt, iſt der Kopf der Antike als bloße Form ſelbſt ſchoͤner als das Natuͤrliche. Die Griechen haben ſchwerlich dieſe Richtſchnur der Bildung durch Meſſungen, wie Peter Camper, oder auf einem wiſſenſchaftlichen Wege gefunden. Aber ihr Handeln gruͤndete ſich auf eine unbewußte tiefe Anſchauung der Na- tur und ihrer im Begriff beweglichen Bildung, ſie verfuh- ren darin keineswegs willkuͤhrlich und auf gutes Gluͤck, wenn es ihnen gelang, wirklich eine noch ſchoͤnere und ideale Menſchenform bildend zu erreichen. 34. Hier zeigt ſich denn, wo das Phantaſieleben des Kuͤnſt- lers und des vergleichenden Naturforſchers in gemeinſamem Gebiet ſich beruͤhren, und auch auseinander gehen. In bei- den bewegt ſich das plaſtiſche Phantaſieleben nur innerhalb der Sphaͤre des Begriffs. Der Naturforſcher ſpricht das Geſetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er ſieht es nur in dem Wirklichen und Natuͤrlichen ver- wirklicht. Die Phantaſie des Kuͤnſtlers iſt auch nur in

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/121>, abgerufen am 29.03.2024.