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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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diesem Gesetze thätig, aber sie verläßt seine Verwirkli-
chung im Wirklichen und Natürlichen, und erhebt sich,
in denselben Gesetzen sich bewegend und fortschreitend,
ohne den Begriff zu verlassen, über das Wirkliche
zur idealen Form, die Selbstzweck und nicht mehr ein
Ausdruck innerer Functionen und als solcher immerhin
durch diese beschränkt ist. Wundern wir uns darum nicht,
wenn einer und derselbe das Größte in beiden Richtun-
gen erreicht hat. Nur durch eine nach der erkannten Idee
des lebendigen Wechsels wirkende plastische Imagination
endeckte Goethe die Metamorphose der Pflanzen, eben
darauf beruhen seine Fortschritte in der vergleichenden
Anatomie und seine höchst geistige ja künstlerische Auffas-
sung dieser Wissenschaft.

189.

Am Schlusse dieser Untersuchung, wo die Einleitung
in die höhere vergleichende Naturwissenschaft und nament-
lich in die vergleichende Anatomie wie aus dem Mittel-
punct der Sache beginnen könnte, mögen wir denn noch
erwägen, wie ohne phantasiereiche nach höheren physiolo-
gischen Ideen wirkende lebendige Anschauung die verglei-
chende Anatomie gar nicht ihrem Begriffe nach fortschrei-
ten könne, wie sie an ihre Organe durchaus andere in
ganz verschiedenen Menschen befriedigte Ansprüche als die
menschliche Anatomie mache, und wie ein der Bearbeitung
der menschlichen Anatomie ähnlicher Anbau ihr durchaus
nicht fruchten vielmehr nur als eine Verirrung vom Be-
griffe betrachtet werden müsse.



dieſem Geſetze thaͤtig, aber ſie verlaͤßt ſeine Verwirkli-
chung im Wirklichen und Natuͤrlichen, und erhebt ſich,
in denſelben Geſetzen ſich bewegend und fortſchreitend,
ohne den Begriff zu verlaſſen, uͤber das Wirkliche
zur idealen Form, die Selbſtzweck und nicht mehr ein
Ausdruck innerer Functionen und als ſolcher immerhin
durch dieſe beſchraͤnkt iſt. Wundern wir uns darum nicht,
wenn einer und derſelbe das Groͤßte in beiden Richtun-
gen erreicht hat. Nur durch eine nach der erkannten Idee
des lebendigen Wechſels wirkende plaſtiſche Imagination
endeckte Goethe die Metamorphoſe der Pflanzen, eben
darauf beruhen ſeine Fortſchritte in der vergleichenden
Anatomie und ſeine hoͤchſt geiſtige ja kuͤnſtleriſche Auffaſ-
ſung dieſer Wiſſenſchaft.

189.

Am Schluſſe dieſer Unterſuchung, wo die Einleitung
in die hoͤhere vergleichende Naturwiſſenſchaft und nament-
lich in die vergleichende Anatomie wie aus dem Mittel-
punct der Sache beginnen koͤnnte, moͤgen wir denn noch
erwaͤgen, wie ohne phantaſiereiche nach hoͤheren phyſiolo-
giſchen Ideen wirkende lebendige Anſchauung die verglei-
chende Anatomie gar nicht ihrem Begriffe nach fortſchrei-
ten koͤnne, wie ſie an ihre Organe durchaus andere in
ganz verſchiedenen Menſchen befriedigte Anſpruͤche als die
menſchliche Anatomie mache, und wie ein der Bearbeitung
der menſchlichen Anatomie aͤhnlicher Anbau ihr durchaus
nicht fruchten vielmehr nur als eine Verirrung vom Be-
griffe betrachtet werden muͤſſe.



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[106/0122] dieſem Geſetze thaͤtig, aber ſie verlaͤßt ſeine Verwirkli- chung im Wirklichen und Natuͤrlichen, und erhebt ſich, in denſelben Geſetzen ſich bewegend und fortſchreitend, ohne den Begriff zu verlaſſen, uͤber das Wirkliche zur idealen Form, die Selbſtzweck und nicht mehr ein Ausdruck innerer Functionen und als ſolcher immerhin durch dieſe beſchraͤnkt iſt. Wundern wir uns darum nicht, wenn einer und derſelbe das Groͤßte in beiden Richtun- gen erreicht hat. Nur durch eine nach der erkannten Idee des lebendigen Wechſels wirkende plaſtiſche Imagination endeckte Goethe die Metamorphoſe der Pflanzen, eben darauf beruhen ſeine Fortſchritte in der vergleichenden Anatomie und ſeine hoͤchſt geiſtige ja kuͤnſtleriſche Auffaſ- ſung dieſer Wiſſenſchaft. 189. Am Schluſſe dieſer Unterſuchung, wo die Einleitung in die hoͤhere vergleichende Naturwiſſenſchaft und nament- lich in die vergleichende Anatomie wie aus dem Mittel- punct der Sache beginnen koͤnnte, moͤgen wir denn noch erwaͤgen, wie ohne phantaſiereiche nach hoͤheren phyſiolo- giſchen Ideen wirkende lebendige Anſchauung die verglei- chende Anatomie gar nicht ihrem Begriffe nach fortſchrei- ten koͤnne, wie ſie an ihre Organe durchaus andere in ganz verſchiedenen Menſchen befriedigte Anſpruͤche als die menſchliche Anatomie mache, und wie ein der Bearbeitung der menſchlichen Anatomie aͤhnlicher Anbau ihr durchaus nicht fruchten vielmehr nur als eine Verirrung vom Be- griffe betrachtet werden muͤſſe.

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/122>, abgerufen am 24.04.2024.