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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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Aristoteles über den Traum.
Eine physiologische Urkunde
.


I. Kapitel.

Hierauf ist nun der Traum zu untersuchen, zuvör-
derst, in welchem Theile der Seele er erscheine, und ob
er eine Affection des denkenden Wesens (noetikon) oder des
Sinneswesens (aisthetikon) sey. Denn durch diese allein
wissen wir von dem, was in uns vorgeht. Wenn nun die
Function des Sehsinnes ist zu sehen, des Tonsinnes zu
hören, und des Sinnes im Allgemeinen zu empfinden,
wenn ferner das Gemeinsame der Sinnesempfindungen sind
die Gestalt, die Bewegung, die Größe und anderes der-
gleichen, das Eigenthümliche der einzelnen Sinne aber die
Farbe, der Ton und der Geschmack, und wenn man end-
lich einmal mit geschlossenen Augen und schlafend nicht se-
hen kann u. s. w., so können wir auch offenbar im Schlafe
durch die äußeren Sinne nicht sinnlich afficirt seyn. Nicht
also nehmen wir den Traum vermöge der äußern Sinnes-
empfindung (aisthesis) wahr; aber ebenso wenig durch die
Vorstellung (doxa). Denn wir sagen von dem uns Begegnen-
den nicht schlechthin nur, daß es ein Mensch, ein Pferd, sondern
auch, daß es weiß, daß es schön sey, welcherlei die Vorstellung
ohne Sinneswahrnehmung niemals weder wahr noch falsch

Ariſtoteles uͤber den Traum.
Eine phyſiologiſche Urkunde
.


I. Kapitel.

Hierauf iſt nun der Traum zu unterſuchen, zuvoͤr-
derſt, in welchem Theile der Seele er erſcheine, und ob
er eine Affection des denkenden Weſens (νοητικὸν) oder des
Sinnesweſens (αἰσϑητικὸν) ſey. Denn durch dieſe allein
wiſſen wir von dem, was in uns vorgeht. Wenn nun die
Function des Sehſinnes iſt zu ſehen, des Tonſinnes zu
hoͤren, und des Sinnes im Allgemeinen zu empfinden,
wenn ferner das Gemeinſame der Sinnesempfindungen ſind
die Geſtalt, die Bewegung, die Groͤße und anderes der-
gleichen, das Eigenthuͤmliche der einzelnen Sinne aber die
Farbe, der Ton und der Geſchmack, und wenn man end-
lich einmal mit geſchloſſenen Augen und ſchlafend nicht ſe-
hen kann u. ſ. w., ſo koͤnnen wir auch offenbar im Schlafe
durch die aͤußeren Sinne nicht ſinnlich afficirt ſeyn. Nicht
alſo nehmen wir den Traum vermoͤge der aͤußern Sinnes-
empfindung (αἴσϑησις) wahr; aber ebenſo wenig durch die
Vorſtellung (δοξα). Denn wir ſagen von dem uns Begegnen-
den nicht ſchlechthin nur, daß es ein Menſch, ein Pferd, ſondern
auch, daß es weiß, daß es ſchoͤn ſey, welcherlei die Vorſtellung
ohne Sinneswahrnehmung niemals weder wahr noch falſch

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[[107]/0123] Ariſtoteles uͤber den Traum. Eine phyſiologiſche Urkunde. I. Kapitel. Hierauf iſt nun der Traum zu unterſuchen, zuvoͤr- derſt, in welchem Theile der Seele er erſcheine, und ob er eine Affection des denkenden Weſens (νοητικὸν) oder des Sinnesweſens (αἰσϑητικὸν) ſey. Denn durch dieſe allein wiſſen wir von dem, was in uns vorgeht. Wenn nun die Function des Sehſinnes iſt zu ſehen, des Tonſinnes zu hoͤren, und des Sinnes im Allgemeinen zu empfinden, wenn ferner das Gemeinſame der Sinnesempfindungen ſind die Geſtalt, die Bewegung, die Groͤße und anderes der- gleichen, das Eigenthuͤmliche der einzelnen Sinne aber die Farbe, der Ton und der Geſchmack, und wenn man end- lich einmal mit geſchloſſenen Augen und ſchlafend nicht ſe- hen kann u. ſ. w., ſo koͤnnen wir auch offenbar im Schlafe durch die aͤußeren Sinne nicht ſinnlich afficirt ſeyn. Nicht alſo nehmen wir den Traum vermoͤge der aͤußern Sinnes- empfindung (αἴσϑησις) wahr; aber ebenſo wenig durch die Vorſtellung (δοξα). Denn wir ſagen von dem uns Begegnen- den nicht ſchlechthin nur, daß es ein Menſch, ein Pferd, ſondern auch, daß es weiß, daß es ſchoͤn ſey, welcherlei die Vorſtellung ohne Sinneswahrnehmung niemals weder wahr noch falſch

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. [107]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/123>, abgerufen am 23.04.2024.