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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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Imagination zu vollkommenen Gestalten ausgebildet wird.
Es giebt Menschen von lebhafter Phantasie, denen nur we-
nige Puncte oder Striche in der Dämmerung genügen, daß
ihre geschäftige plastische Phantasie diese Elemente zu vollkom-
menen sichtbaren Gestalten ergänzend verbindet. Kinder sehen
in den heterogensten Umrissen leicht Gesichter, Menschen u. a.

79.

Mich hat diese Plasticität der Phantasie im lichten und
dunkeln Sehfelde in den Jahren der Kindheit oft geneckt. Ei-
nes erinnere ich mich am lebhaftesten. Durch die Fenster
des Wohnzimmers im elterlichen Hause sah ich auf ein Haus
der Straße von etwas altem Ansehen, an dem der Kalk
an manchen Stellen sehr verschwärzt, an andern aber in
vielgestaltigen Lappen abgefallen war, um hier eine ältere
auch wohl älteste Farbenbekleidung durchsehen zu lassen.
Wenn ich nun nicht über die Schwelle durfte und gar man-
che Stunde des Tages am Fenster mit allerlei beschäftigt
war, und durch das Fensten sehend immer nur die russige
verfallene Wand des Nachbarhauses betrachtete, gelang es mir
in den Umrissen des abgefallenen und stehen gebliebenen
Kalkes gar manche Gesichter zu erkennen, die durch die oft
wiederholte Betrachtung sogar einen ganz sprechenden Aus-
druck erhielten. Das Nachbarhaus mit seinen Wänden war
in vielen Stunden das einzig Specificirte in meinem lichtem
Sehfeld, das in seinem Einerlei immer wiederkehrte, kein
Wunder, wenn die Formen schaffende Phantasie eine Art
von Leben zuletzt in diese eintönige Landschaft brachte.

80.

Wenn ich nun die Andern auch aufmerksame machen
wollte, wie man doch gezwungen sey, an dem verfallenen
Kalk allerlei Gesichter zu sehen, wollte freilich Niemand mir
Recht geben, aber ich sah es doch ganz deutlich. Diese we-

Imagination zu vollkommenen Geſtalten ausgebildet wird.
Es giebt Menſchen von lebhafter Phantaſie, denen nur we-
nige Puncte oder Striche in der Daͤmmerung genuͤgen, daß
ihre geſchaͤftige plaſtiſche Phantaſie dieſe Elemente zu vollkom-
menen ſichtbaren Geſtalten ergaͤnzend verbindet. Kinder ſehen
in den heterogenſten Umriſſen leicht Geſichter, Menſchen u. a.

79.

Mich hat dieſe Plaſticitaͤt der Phantaſie im lichten und
dunkeln Sehfelde in den Jahren der Kindheit oft geneckt. Ei-
nes erinnere ich mich am lebhafteſten. Durch die Fenſter
des Wohnzimmers im elterlichen Hauſe ſah ich auf ein Haus
der Straße von etwas altem Anſehen, an dem der Kalk
an manchen Stellen ſehr verſchwaͤrzt, an andern aber in
vielgeſtaltigen Lappen abgefallen war, um hier eine aͤltere
auch wohl aͤlteſte Farbenbekleidung durchſehen zu laſſen.
Wenn ich nun nicht uͤber die Schwelle durfte und gar man-
che Stunde des Tages am Fenſter mit allerlei beſchaͤftigt
war, und durch das Fenſten ſehend immer nur die ruſſige
verfallene Wand des Nachbarhauſes betrachtete, gelang es mir
in den Umriſſen des abgefallenen und ſtehen gebliebenen
Kalkes gar manche Geſichter zu erkennen, die durch die oft
wiederholte Betrachtung ſogar einen ganz ſprechenden Aus-
druck erhielten. Das Nachbarhaus mit ſeinen Waͤnden war
in vielen Stunden das einzig Specificirte in meinem lichtem
Sehfeld, das in ſeinem Einerlei immer wiederkehrte, kein
Wunder, wenn die Formen ſchaffende Phantaſie eine Art
von Leben zuletzt in dieſe eintoͤnige Landſchaft brachte.

80.

Wenn ich nun die Andern auch aufmerkſame machen
wollte, wie man doch gezwungen ſey, an dem verfallenen
Kalk allerlei Geſichter zu ſehen, wollte freilich Niemand mir
Recht geben, aber ich ſah es doch ganz deutlich. Dieſe we-

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[45/0061] Imagination zu vollkommenen Geſtalten ausgebildet wird. Es giebt Menſchen von lebhafter Phantaſie, denen nur we- nige Puncte oder Striche in der Daͤmmerung genuͤgen, daß ihre geſchaͤftige plaſtiſche Phantaſie dieſe Elemente zu vollkom- menen ſichtbaren Geſtalten ergaͤnzend verbindet. Kinder ſehen in den heterogenſten Umriſſen leicht Geſichter, Menſchen u. a. 79. Mich hat dieſe Plaſticitaͤt der Phantaſie im lichten und dunkeln Sehfelde in den Jahren der Kindheit oft geneckt. Ei- nes erinnere ich mich am lebhafteſten. Durch die Fenſter des Wohnzimmers im elterlichen Hauſe ſah ich auf ein Haus der Straße von etwas altem Anſehen, an dem der Kalk an manchen Stellen ſehr verſchwaͤrzt, an andern aber in vielgeſtaltigen Lappen abgefallen war, um hier eine aͤltere auch wohl aͤlteſte Farbenbekleidung durchſehen zu laſſen. Wenn ich nun nicht uͤber die Schwelle durfte und gar man- che Stunde des Tages am Fenſter mit allerlei beſchaͤftigt war, und durch das Fenſten ſehend immer nur die ruſſige verfallene Wand des Nachbarhauſes betrachtete, gelang es mir in den Umriſſen des abgefallenen und ſtehen gebliebenen Kalkes gar manche Geſichter zu erkennen, die durch die oft wiederholte Betrachtung ſogar einen ganz ſprechenden Aus- druck erhielten. Das Nachbarhaus mit ſeinen Waͤnden war in vielen Stunden das einzig Specificirte in meinem lichtem Sehfeld, das in ſeinem Einerlei immer wiederkehrte, kein Wunder, wenn die Formen ſchaffende Phantaſie eine Art von Leben zuletzt in dieſe eintoͤnige Landſchaft brachte. 80. Wenn ich nun die Andern auch aufmerkſame machen wollte, wie man doch gezwungen ſey, an dem verfallenen Kalk allerlei Geſichter zu ſehen, wollte freilich Niemand mir Recht geben, aber ich ſah es doch ganz deutlich. Dieſe we-

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/61>, abgerufen am 23.04.2024.