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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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nigstens der Phantasie verweigerte Anerkennung konnte mich
denn auch noch trotzig machen, mein Gesichtersehen wurde
mir etwas Geheimnißvolles, wiewohl ich freilich hierbei
nur die Einbildung im Sinne hatte. In späteren Jahren
wollte das nicht mehr gelingen, und wiewohl ich meine
Figuren noch ganz deutlich im Sinne hatte, so konnte
ich sie doch nicht mehr in den Umrissen wiederfinden, aus
denen sie mir entstanden waren.

81.

Im Dunkeln ist dieß wunderbare plastische Eigenleben
der Phantasie im Sehfelde am mächtigsten, denn die objec-
tiven Sinneseindrücke mit ihrer Beharrlichkeit, Gesetzmä-
ßigkeit vernichten den Widerspruch des spielenden Phanta-
sielebens, das aber sogleich hervortritt, seine Formen im
dunkeln Formenschemen der Sehsinnsubstanz zu begrenzen
und zu verwandeln. Bäume, Felsen, necken uns mit ihren
gigantischen Gesichtern, die sich aus rohen Formen zu schrek-
kender oder wenigstens wunderbarer Lebendigkeit ergänzen.

Und die Klippen, die sich bücken,
und die langen Felsennasen,
wie sie schnarchen, wie sie blasen.
Und die Wurzeln, wie die Schlangen,
winden sich aus Fels und Sande,
strecken wunderliche Bande,
uns zu schrecken, uns zu fangen;
aus belebten derben Masern
strecken sie Polypenfasern
nach dem Wandrer.
82.

Hieher gehört auch eine Abstraction der sinnlichen Vor-
stellung im Sehfelde, die wohl Jedem geläufig seyn möchte.
Betrachten wir sehr zusammengesetzte Figuren, die aus einer

nigſtens der Phantaſie verweigerte Anerkennung konnte mich
denn auch noch trotzig machen, mein Geſichterſehen wurde
mir etwas Geheimnißvolles, wiewohl ich freilich hierbei
nur die Einbildung im Sinne hatte. In ſpaͤteren Jahren
wollte das nicht mehr gelingen, und wiewohl ich meine
Figuren noch ganz deutlich im Sinne hatte, ſo konnte
ich ſie doch nicht mehr in den Umriſſen wiederfinden, aus
denen ſie mir entſtanden waren.

81.

Im Dunkeln iſt dieß wunderbare plaſtiſche Eigenleben
der Phantaſie im Sehfelde am maͤchtigſten, denn die objec-
tiven Sinneseindruͤcke mit ihrer Beharrlichkeit, Geſetzmaͤ-
ßigkeit vernichten den Widerſpruch des ſpielenden Phanta-
ſielebens, das aber ſogleich hervortritt, ſeine Formen im
dunkeln Formenſchemen der Sehſinnſubſtanz zu begrenzen
und zu verwandeln. Baͤume, Felſen, necken uns mit ihren
gigantiſchen Geſichtern, die ſich aus rohen Formen zu ſchrek-
kender oder wenigſtens wunderbarer Lebendigkeit ergaͤnzen.

Und die Klippen, die ſich bücken,
und die langen Felſennaſen,
wie ſie ſchnarchen, wie ſie blaſen.
Und die Wurzeln, wie die Schlangen,
winden ſich aus Fels und Sande,
ſtrecken wunderliche Bande,
uns zu ſchrecken, uns zu fangen;
aus belebten derben Maſern
ſtrecken ſie Polypenfaſern
nach dem Wandrer.
82.

Hieher gehoͤrt auch eine Abſtraction der ſinnlichen Vor-
ſtellung im Sehfelde, die wohl Jedem gelaͤufig ſeyn moͤchte.
Betrachten wir ſehr zuſammengeſetzte Figuren, die aus einer

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[46/0062] nigſtens der Phantaſie verweigerte Anerkennung konnte mich denn auch noch trotzig machen, mein Geſichterſehen wurde mir etwas Geheimnißvolles, wiewohl ich freilich hierbei nur die Einbildung im Sinne hatte. In ſpaͤteren Jahren wollte das nicht mehr gelingen, und wiewohl ich meine Figuren noch ganz deutlich im Sinne hatte, ſo konnte ich ſie doch nicht mehr in den Umriſſen wiederfinden, aus denen ſie mir entſtanden waren. 81. Im Dunkeln iſt dieß wunderbare plaſtiſche Eigenleben der Phantaſie im Sehfelde am maͤchtigſten, denn die objec- tiven Sinneseindruͤcke mit ihrer Beharrlichkeit, Geſetzmaͤ- ßigkeit vernichten den Widerſpruch des ſpielenden Phanta- ſielebens, das aber ſogleich hervortritt, ſeine Formen im dunkeln Formenſchemen der Sehſinnſubſtanz zu begrenzen und zu verwandeln. Baͤume, Felſen, necken uns mit ihren gigantiſchen Geſichtern, die ſich aus rohen Formen zu ſchrek- kender oder wenigſtens wunderbarer Lebendigkeit ergaͤnzen. Und die Klippen, die ſich bücken, und die langen Felſennaſen, wie ſie ſchnarchen, wie ſie blaſen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen, winden ſich aus Fels und Sande, ſtrecken wunderliche Bande, uns zu ſchrecken, uns zu fangen; aus belebten derben Maſern ſtrecken ſie Polypenfaſern nach dem Wandrer. 82. Hieher gehoͤrt auch eine Abſtraction der ſinnlichen Vor- ſtellung im Sehfelde, die wohl Jedem gelaͤufig ſeyn moͤchte. Betrachten wir ſehr zuſammengeſetzte Figuren, die aus einer

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/62>, abgerufen am 19.04.2024.