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Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826.

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Wunderbare im magnetischen Hellsehen scheint ihm aber
nicht mehr Glauben zu verdienen als die Divination aus
dem Traume.

102.

Im Traume sind wir dem Einzelleben der Phantasie-
hingegeben. Die Phantasie entwickelt, verwandelt ihre
Gestalten und bringt sie nach ihren Gesetzen lebend in
Verhältnisse und Situationen, die oft den natürlichen
Verhältnißen ihrer Objecte entgegen, widersprechend sind, sie
bringt wohlbekannte Objecte in Verhältnisse, die im wachen-
den Zustand undenkbar, d. h. nicht im bisherigen Begriff
des Objectes liegen, und woran wir vielleicht nie zu denken
wagen. Unter vielerlei Zufälligem kömmt auch ein Zufälliges
vor, das einem künftigen Wirklichen entspricht. ean polla
bales, allot alloion baleis. Wirfst du Vieles, so
wirfst du Anderes anders. Menschen, die wir, nachdem, wie
wir sie kennen, für manches ganz unfähig halten müssen,
sehen wir durch eine nach ihren Gesetzen und oft nicht nach der
Gesetzmäßigkeit der Objecte wirkende Combination der Phan-
tasie im Traum auch dieses früher Undenkbare thun. Und
nach dem Traum kann die Möglichkeit dieser Handlung von
dem Menschen, dem wir sie früher nie zugetraut, uns
ganz wahrscheinlich vorkommen.

103.

Denn die Phantasie den Menschen als Traumobject in
ganz unerhörte Situationen setzend, läßt ihn darin handeln
und sich helfen auf eine Art, wie nur er nach dem Begriff sei-
ner ganzen Organisation darin sich helfen kann. Wenn wir
uns in einem Menschen geirrt haben, so sagen wir: es müße
ihm früher die Gelegenheit, so zu erscheinen, wie er nun
wirklich erscheint, gefehlt haben. Diese Gelegenheit geben
wir dem Menschen im Traum durch das Unerhörte, Unge-

Wunderbare im magnetiſchen Hellſehen ſcheint ihm aber
nicht mehr Glauben zu verdienen als die Divination aus
dem Traume.

102.

Im Traume ſind wir dem Einzelleben der Phantaſie-
hingegeben. Die Phantaſie entwickelt, verwandelt ihre
Geſtalten und bringt ſie nach ihren Geſetzen lebend in
Verhaͤltniſſe und Situationen, die oft den natuͤrlichen
Verhaͤltnißen ihrer Objecte entgegen, widerſprechend ſind, ſie
bringt wohlbekannte Objecte in Verhaͤltniſſe, die im wachen-
den Zuſtand undenkbar, d. h. nicht im bisherigen Begriff
des Objectes liegen, und woran wir vielleicht nie zu denken
wagen. Unter vielerlei Zufaͤlligem koͤmmt auch ein Zufaͤlliges
vor, das einem kuͤnftigen Wirklichen entſpricht. ἐὰν πολλἀ
βάλης, ἄλλοτ̕ ἀλλοῖον βαλεῖς. Wirfſt du Vieles, ſo
wirfſt du Anderes anders. Menſchen, die wir, nachdem, wie
wir ſie kennen, fuͤr manches ganz unfaͤhig halten muͤſſen,
ſehen wir durch eine nach ihren Geſetzen und oft nicht nach der
Geſetzmaͤßigkeit der Objecte wirkende Combination der Phan-
taſie im Traum auch dieſes fruͤher Undenkbare thun. Und
nach dem Traum kann die Moͤglichkeit dieſer Handlung von
dem Menſchen, dem wir ſie fruͤher nie zugetraut, uns
ganz wahrſcheinlich vorkommen.

103.

Denn die Phantaſie den Menſchen als Traumobject in
ganz unerhoͤrte Situationen ſetzend, laͤßt ihn darin handeln
und ſich helfen auf eine Art, wie nur er nach dem Begriff ſei-
ner ganzen Organiſation darin ſich helfen kann. Wenn wir
uns in einem Menſchen geirrt haben, ſo ſagen wir: es muͤße
ihm fruͤher die Gelegenheit, ſo zu erſcheinen, wie er nun
wirklich erſcheint, gefehlt haben. Dieſe Gelegenheit geben
wir dem Menſchen im Traum durch das Unerhoͤrte, Unge-

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[58/0074] Wunderbare im magnetiſchen Hellſehen ſcheint ihm aber nicht mehr Glauben zu verdienen als die Divination aus dem Traume. 102. Im Traume ſind wir dem Einzelleben der Phantaſie- hingegeben. Die Phantaſie entwickelt, verwandelt ihre Geſtalten und bringt ſie nach ihren Geſetzen lebend in Verhaͤltniſſe und Situationen, die oft den natuͤrlichen Verhaͤltnißen ihrer Objecte entgegen, widerſprechend ſind, ſie bringt wohlbekannte Objecte in Verhaͤltniſſe, die im wachen- den Zuſtand undenkbar, d. h. nicht im bisherigen Begriff des Objectes liegen, und woran wir vielleicht nie zu denken wagen. Unter vielerlei Zufaͤlligem koͤmmt auch ein Zufaͤlliges vor, das einem kuͤnftigen Wirklichen entſpricht. ἐὰν πολλἀ βάλης, ἄλλοτ̕ ἀλλοῖον βαλεῖς. Wirfſt du Vieles, ſo wirfſt du Anderes anders. Menſchen, die wir, nachdem, wie wir ſie kennen, fuͤr manches ganz unfaͤhig halten muͤſſen, ſehen wir durch eine nach ihren Geſetzen und oft nicht nach der Geſetzmaͤßigkeit der Objecte wirkende Combination der Phan- taſie im Traum auch dieſes fruͤher Undenkbare thun. Und nach dem Traum kann die Moͤglichkeit dieſer Handlung von dem Menſchen, dem wir ſie fruͤher nie zugetraut, uns ganz wahrſcheinlich vorkommen. 103. Denn die Phantaſie den Menſchen als Traumobject in ganz unerhoͤrte Situationen ſetzend, laͤßt ihn darin handeln und ſich helfen auf eine Art, wie nur er nach dem Begriff ſei- ner ganzen Organiſation darin ſich helfen kann. Wenn wir uns in einem Menſchen geirrt haben, ſo ſagen wir: es muͤße ihm fruͤher die Gelegenheit, ſo zu erſcheinen, wie er nun wirklich erſcheint, gefehlt haben. Dieſe Gelegenheit geben wir dem Menſchen im Traum durch das Unerhoͤrte, Unge-

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Zitationshilfe: Müller, Johannes: Über die phantastischen Gesichtserscheinungen. Koblenz, 1826, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_gesichtserscheinungen_1826/74>, abgerufen am 25.04.2024.