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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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3.

Alle diese Aufzeichnungen gaben schwerlich et-
was mehr als Namen von Siegern -- die nur selten
in Beziehung auf Geschichte -- und Fürsten nebst den
Jahren ihrer Regierung; daneben allenfalls dies und
jenes Orakel, wie die aus der Lakonischen Geschichte
bei Herodot, welche auch ohne Zweifel schon früh
in Schrift von den Pythiern nach Sparta gebracht
wurden. Dazu kann man vielleicht noch manche alte
Rhetra fügen, wohin das Dorische Alterthum alle
politische Urkunden, Gesetze und Bündnisse rechnete 1.
Von der letzten Art ist die Wratra toir Waleiois, die
Gell gefunden, das älteste Beispiel, deren Schrift so
ungemein unförmlich, daß man über die niedrige Stufe
der Schreibkunst, auf der sie verfaßt, erstaunen muß.
Wie aber die Spartanischen Retrai des Lykurg abge-
faßt waren, ist sehr zweifelhaft. Es wird oft ange-
nommen, daß sie von Anfang an metrisch verfaßt und
von der Jugend gesungen worden seien 2; allein dem
widerspricht das unverwerfliche Zeugniß 3, daß erst
Terpandros von Antissa, den die Spartaner so hoch
schätzten, diese Gesetze in lyrische Maaßen gesetzt habe
(emelopoiese); Terpandros aber lebte nach der Pari-
schen Chronik (die vielleicht hierin auf die Cataloge der
Karneoniken basirt) erst gegen Olymp. 26. Die Rhe-
tra aber, die Plutarch als die eigentliche Verfassungs-
urkunde erhalten, trägt einerseits einen wahrhaft alter-
thümlichen Charakter, indem sie ein Gebot des Pythi-
schen Apoll an den Gesetzgeber im Infinitiv enthält --
grade so wie die Gesetze der Israeliten als von Jeho-
va zu Mose gesprochen gedacht werden -- und läßt

1 Vgl. über das Wort Boissonade Classical Journ. V. 20.
p.
289.
2 z. B. von Wolf Prolegg. Homeri p. 67.
3 des
Klem. Alex. Strom. 1. S. 308.
3.

Alle dieſe Aufzeichnungen gaben ſchwerlich et-
was mehr als Namen von Siegern — die nur ſelten
in Beziehung auf Geſchichte — und Fuͤrſten nebſt den
Jahren ihrer Regierung; daneben allenfalls dies und
jenes Orakel, wie die aus der Lakoniſchen Geſchichte
bei Herodot, welche auch ohne Zweifel ſchon fruͤh
in Schrift von den Pythiern nach Sparta gebracht
wurden. Dazu kann man vielleicht noch manche alte
Rhetra fuͤgen, wohin das Doriſche Alterthum alle
politiſche Urkunden, Geſetze und Buͤndniſſe rechnete 1.
Von der letzten Art iſt die Ϝρατρα τοιρ Ϝαλειοις, die
Gell gefunden, das aͤlteſte Beiſpiel, deren Schrift ſo
ungemein unfoͤrmlich, daß man uͤber die niedrige Stufe
der Schreibkunſt, auf der ſie verfaßt, erſtaunen muß.
Wie aber die Spartaniſchen ῥῆτραι des Lykurg abge-
faßt waren, iſt ſehr zweifelhaft. Es wird oft ange-
nommen, daß ſie von Anfang an metriſch verfaßt und
von der Jugend geſungen worden ſeien 2; allein dem
widerſpricht das unverwerfliche Zeugniß 3, daß erſt
Terpandros von Antiſſa, den die Spartaner ſo hoch
ſchaͤtzten, dieſe Geſetze in lyriſche Maaßen geſetzt habe
(ἐμελοποίησε); Terpandros aber lebte nach der Pari-
ſchen Chronik (die vielleicht hierin auf die Cataloge der
Karneoniken baſirt) erſt gegen Olymp. 26. Die Rhe-
tra aber, die Plutarch als die eigentliche Verfaſſungs-
urkunde erhalten, traͤgt einerſeits einen wahrhaft alter-
thuͤmlichen Charakter, indem ſie ein Gebot des Pythi-
ſchen Apoll an den Geſetzgeber im Infinitiv enthaͤlt —
grade ſo wie die Geſetze der Israeliten als von Jeho-
va zu Moſe geſprochen gedacht werden — und laͤßt

1 Vgl. uͤber das Wort Boiſſonade Classical Journ. V. 20.
p.
289.
2 z. B. von Wolf Prolegg. Homeri p. 67.
3 des
Klem. Alex. Strom. 1. S. 308.
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[134/0164] 3. Alle dieſe Aufzeichnungen gaben ſchwerlich et- was mehr als Namen von Siegern — die nur ſelten in Beziehung auf Geſchichte — und Fuͤrſten nebſt den Jahren ihrer Regierung; daneben allenfalls dies und jenes Orakel, wie die aus der Lakoniſchen Geſchichte bei Herodot, welche auch ohne Zweifel ſchon fruͤh in Schrift von den Pythiern nach Sparta gebracht wurden. Dazu kann man vielleicht noch manche alte Rhetra fuͤgen, wohin das Doriſche Alterthum alle politiſche Urkunden, Geſetze und Buͤndniſſe rechnete 1. Von der letzten Art iſt die Ϝρατρα τοιρ Ϝαλειοις, die Gell gefunden, das aͤlteſte Beiſpiel, deren Schrift ſo ungemein unfoͤrmlich, daß man uͤber die niedrige Stufe der Schreibkunſt, auf der ſie verfaßt, erſtaunen muß. Wie aber die Spartaniſchen ῥῆτραι des Lykurg abge- faßt waren, iſt ſehr zweifelhaft. Es wird oft ange- nommen, daß ſie von Anfang an metriſch verfaßt und von der Jugend geſungen worden ſeien 2; allein dem widerſpricht das unverwerfliche Zeugniß 3, daß erſt Terpandros von Antiſſa, den die Spartaner ſo hoch ſchaͤtzten, dieſe Geſetze in lyriſche Maaßen geſetzt habe (ἐμελοποίησε); Terpandros aber lebte nach der Pari- ſchen Chronik (die vielleicht hierin auf die Cataloge der Karneoniken baſirt) erſt gegen Olymp. 26. Die Rhe- tra aber, die Plutarch als die eigentliche Verfaſſungs- urkunde erhalten, traͤgt einerſeits einen wahrhaft alter- thuͤmlichen Charakter, indem ſie ein Gebot des Pythi- ſchen Apoll an den Geſetzgeber im Infinitiv enthaͤlt — grade ſo wie die Geſetze der Israeliten als von Jeho- va zu Moſe geſprochen gedacht werden — und laͤßt 1 Vgl. uͤber das Wort Boiſſonade Classical Journ. V. 20. p. 289. 2 z. B. von Wolf Prolegg. Homeri p. 67. 3 des Klem. Alex. Strom. 1. S. 308.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/164>, abgerufen am 19.04.2024.