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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824.

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ein Gestirn 1, und auch Perses kann nichts als der
Strahlende heißen. Alle diese Wesen stehen also der
Leto entgegen, und ihr Verhältniß kann nichts an-
deres als ein Heraustreten aus Finsterniß in Licht und
ein Zurückgehen aus diesem in jene bedeuten, welches
die genealogische Sage mit einer gewissen Breite aus-
führte. Wie endlich durch die Geburt des Apollon und
der Artemis die persönliche Gottheit eintritt: so bleibt
auf der andern Seite Hekate, die Tochter der Asteria
von Perses oder Zeus, als ein Rest der titanischen Na-
turwelt, stehn, welche ebenfalls im Delischen Cultus
vorkam, da ein Inselchen in der Nähe Hekatesnesos
hieß 2.

3.

Das Eiland Delos selbst ward in den Kreis
symbolischer Darstellung gezogen. Pindar nannte in
einem Prosodion auf Delos die Insel "des Meeres
Tochter, des breiten Landes unerschüttertes Wunder,
welche die Sterblichen Dalos nennen, die Seligen aber
im Olymp das weitberühmte Gestirn der dunkeln Erde",
und sang ausführlich, wie das von Wogen und Win-
den getriebene Eiland, als Lato es betrat, durch vier
erzfüßige Säulen an die Wurzeln der Erde festgebun-
den wurde. Der Mythus von dem Umherschwimmen
der Insel -- der indeß jünger ist als der Hymnus des
blinden Sängers von Chios 3 -- soll wohl nur den
unruhigen und unsteten Zustand bezeichnen, welcher der
Ordnung und Klarheit zuvorging, die das Erscheinen
des Gottes bewirkte. Von da an steht Delos fest und
unerschüttert, und kein Erdbeben kann sie bewegen, da-
her ganz Griechenland erschrak, als sie vor dem Per-

1 Von dem Apollinischen Tenedos Hesych: Asterioi oi pro-
toi ten Tenedon katoikesantes.
2 Semos bei Athen. 15,
645. Hrpkr.
3 vgl. Spanh. zu Kall. Del. 36. 273.

ein Geſtirn 1, und auch Perſes kann nichts als der
Strahlende heißen. Alle dieſe Weſen ſtehen alſo der
Leto entgegen, und ihr Verhaͤltniß kann nichts an-
deres als ein Heraustreten aus Finſterniß in Licht und
ein Zuruͤckgehen aus dieſem in jene bedeuten, welches
die genealogiſche Sage mit einer gewiſſen Breite aus-
fuͤhrte. Wie endlich durch die Geburt des Apollon und
der Artemis die perſoͤnliche Gottheit eintritt: ſo bleibt
auf der andern Seite Hekate, die Tochter der Aſteria
von Perſes oder Zeus, als ein Reſt der titaniſchen Na-
turwelt, ſtehn, welche ebenfalls im Deliſchen Cultus
vorkam, da ein Inſelchen in der Naͤhe Hekatesneſos
hieß 2.

3.

Das Eiland Delos ſelbſt ward in den Kreis
ſymboliſcher Darſtellung gezogen. Pindar nannte in
einem Proſodion auf Delos die Inſel “des Meeres
Tochter, des breiten Landes unerſchuͤttertes Wunder,
welche die Sterblichen Dalos nennen, die Seligen aber
im Olymp das weitberuͤhmte Geſtirn der dunkeln Erde”,
und ſang ausfuͤhrlich, wie das von Wogen und Win-
den getriebene Eiland, als Lato es betrat, durch vier
erzfuͤßige Saͤulen an die Wurzeln der Erde feſtgebun-
den wurde. Der Mythus von dem Umherſchwimmen
der Inſel — der indeß juͤnger iſt als der Hymnus des
blinden Saͤngers von Chios 3 — ſoll wohl nur den
unruhigen und unſteten Zuſtand bezeichnen, welcher der
Ordnung und Klarheit zuvorging, die das Erſcheinen
des Gottes bewirkte. Von da an ſteht Delos feſt und
unerſchuͤttert, und kein Erdbeben kann ſie bewegen, da-
her ganz Griechenland erſchrak, als ſie vor dem Per-

1 Von dem Apolliniſchen Tenedos Heſych: Ἁστέϱιοι οἱ πϱῶ-
τοι τὴν Τένεδον κατοικἠσαντες.
2 Semos bei Athen. 15,
645. Hrpkr.
3 vgl. Spanh. zu Kall. Del. 36. 273.
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[311/0341] ein Geſtirn 1, und auch Perſes kann nichts als der Strahlende heißen. Alle dieſe Weſen ſtehen alſo der Leto entgegen, und ihr Verhaͤltniß kann nichts an- deres als ein Heraustreten aus Finſterniß in Licht und ein Zuruͤckgehen aus dieſem in jene bedeuten, welches die genealogiſche Sage mit einer gewiſſen Breite aus- fuͤhrte. Wie endlich durch die Geburt des Apollon und der Artemis die perſoͤnliche Gottheit eintritt: ſo bleibt auf der andern Seite Hekate, die Tochter der Aſteria von Perſes oder Zeus, als ein Reſt der titaniſchen Na- turwelt, ſtehn, welche ebenfalls im Deliſchen Cultus vorkam, da ein Inſelchen in der Naͤhe Hekatesneſos hieß 2. 3. Das Eiland Delos ſelbſt ward in den Kreis ſymboliſcher Darſtellung gezogen. Pindar nannte in einem Proſodion auf Delos die Inſel “des Meeres Tochter, des breiten Landes unerſchuͤttertes Wunder, welche die Sterblichen Dalos nennen, die Seligen aber im Olymp das weitberuͤhmte Geſtirn der dunkeln Erde”, und ſang ausfuͤhrlich, wie das von Wogen und Win- den getriebene Eiland, als Lato es betrat, durch vier erzfuͤßige Saͤulen an die Wurzeln der Erde feſtgebun- den wurde. Der Mythus von dem Umherſchwimmen der Inſel — der indeß juͤnger iſt als der Hymnus des blinden Saͤngers von Chios 3 — ſoll wohl nur den unruhigen und unſteten Zuſtand bezeichnen, welcher der Ordnung und Klarheit zuvorging, die das Erſcheinen des Gottes bewirkte. Von da an ſteht Delos feſt und unerſchuͤttert, und kein Erdbeben kann ſie bewegen, da- her ganz Griechenland erſchrak, als ſie vor dem Per- 1 Von dem Apolliniſchen Tenedos Heſych: Ἁστέϱιοι οἱ πϱῶ- τοι τὴν Τένεδον κατοικἠσαντες. 2 Semos bei Athen. 15, 645. Hrpkr. 3 vgl. Spanh. zu Kall. Del. 36. 273.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 1. Breslau, 1824, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische02_1824/341>, abgerufen am 29.03.2024.