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Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

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mens und der alten Gewohnheit (der agrapha nomima,
patrioi nomoi) 1 nicht in Anschlag brachten, die voll-
kommen zwingend, so lange die innere Einheit eines
Volkes noch nicht zerrissen und aufgehoben ist. Auf
ungeschriebenen Gesetzen, die im Herzen der Bürger
wurzelten, und mit der Erziehung eingepflanzt waren,
beruhte ja alles Staats- und Rechtsleben der Spar-
tiaten, und dies sprach sich durch den Mund der er-
fahrenen Greise, welche die Gesammtheit frei als die
Besten erlesen hatte, gewiß am richtigsten aus. Tau-
send geschriebene Gesetze lassen immer noch eine Lücke,
wo die Willkühr eintritt, wenn jene nicht selbst orga-
nisch in sich zusammenhängend, auch völlige Kraft ha-
ben, das fehlende zu ergänzen; diese Kraft enthält aber
allein das mit der Nation geborene und gewordene
Recht, welches durch die, unter Aufsicht der Besten ge-
stellte, Sitte ohne Zweifel sicherer als durch Schrift
festgehalten wird.

So urtheilen wir denn überhaupt über die Geru-
sia, daß sie ein schönes Denkmal sei althellenischer
Sitte, und von edler Offenheit, einfacher Größe, rei-
nem Vertrauen zeuge, das auf die sittliche Würde und
auf die väterliche Weisheit derer, die ein langes Leben
erprobt hatte, und denen das Volk nun sein Wohl an-
heim stellte, bauen mochte.

3.

Die Funktionen der Gerusia sind doppelt, die einer
Regierungsbehörde und eines Gerichts. In ersterem Be-
zuge berathschlagte sie mit den Königen über alle größeren
Angelegenheiten so weit, daß sie zur Entscheidung der
Volksversammlung fertig waren, und faßte nach Mehrheit
der Stimmen einen Vorbeschluß ab 2, dessen Gewicht

1 Am besten unter den Alten redet vielleicht Platon von die-
sen, ebd. 7. S. 793.
2 Plut. Agis 11. tous gerontas, ois
to kratos en en to probouleuein. Vgl. Demosth. Leptin. a. O.
d[ - 1 Zeichen fehlt]spotes esti ton pollon. vgl. Aeschin. g. Timarch 25, 35.

mens und der alten Gewohnheit (der ἄγραφα νόμιμα,
πάτϱιοι νόμοι) 1 nicht in Anſchlag brachten, die voll-
kommen zwingend, ſo lange die innere Einheit eines
Volkes noch nicht zerriſſen und aufgehoben iſt. Auf
ungeſchriebenen Geſetzen, die im Herzen der Buͤrger
wurzelten, und mit der Erziehung eingepflanzt waren,
beruhte ja alles Staats- und Rechtsleben der Spar-
tiaten, und dies ſprach ſich durch den Mund der er-
fahrenen Greiſe, welche die Geſammtheit frei als die
Beſten erleſen hatte, gewiß am richtigſten aus. Tau-
ſend geſchriebene Geſetze laſſen immer noch eine Luͤcke,
wo die Willkuͤhr eintritt, wenn jene nicht ſelbſt orga-
niſch in ſich zuſammenhaͤngend, auch voͤllige Kraft ha-
ben, das fehlende zu ergaͤnzen; dieſe Kraft enthaͤlt aber
allein das mit der Nation geborene und gewordene
Recht, welches durch die, unter Aufſicht der Beſten ge-
ſtellte, Sitte ohne Zweifel ſicherer als durch Schrift
feſtgehalten wird.

So urtheilen wir denn uͤberhaupt uͤber die Geru-
ſia, daß ſie ein ſchoͤnes Denkmal ſei althelleniſcher
Sitte, und von edler Offenheit, einfacher Groͤße, rei-
nem Vertrauen zeuge, das auf die ſittliche Wuͤrde und
auf die vaͤterliche Weisheit derer, die ein langes Leben
erprobt hatte, und denen das Volk nun ſein Wohl an-
heim ſtellte, bauen mochte.

3.

Die Funktionen der Geruſia ſind doppelt, die einer
Regierungsbehoͤrde und eines Gerichts. In erſterem Be-
zuge berathſchlagte ſie mit den Koͤnigen uͤber alle groͤßeren
Angelegenheiten ſo weit, daß ſie zur Entſcheidung der
Volksverſammlung fertig waren, und faßte nach Mehrheit
der Stimmen einen Vorbeſchluß ab 2, deſſen Gewicht

1 Am beſten unter den Alten redet vielleicht Platon von die-
ſen, ebd. 7. S. 793.
2 Plut. Agis 11. τοὺς γέϱοντας, οἰς
τὸ κϱἀτος ἦν ἐν τῷ πϱοβουλεύειν. Vgl. Demoſth. Leptin. a. O.
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[94/0100] mens und der alten Gewohnheit (der ἄγραφα νόμιμα, πάτϱιοι νόμοι) 1 nicht in Anſchlag brachten, die voll- kommen zwingend, ſo lange die innere Einheit eines Volkes noch nicht zerriſſen und aufgehoben iſt. Auf ungeſchriebenen Geſetzen, die im Herzen der Buͤrger wurzelten, und mit der Erziehung eingepflanzt waren, beruhte ja alles Staats- und Rechtsleben der Spar- tiaten, und dies ſprach ſich durch den Mund der er- fahrenen Greiſe, welche die Geſammtheit frei als die Beſten erleſen hatte, gewiß am richtigſten aus. Tau- ſend geſchriebene Geſetze laſſen immer noch eine Luͤcke, wo die Willkuͤhr eintritt, wenn jene nicht ſelbſt orga- niſch in ſich zuſammenhaͤngend, auch voͤllige Kraft ha- ben, das fehlende zu ergaͤnzen; dieſe Kraft enthaͤlt aber allein das mit der Nation geborene und gewordene Recht, welches durch die, unter Aufſicht der Beſten ge- ſtellte, Sitte ohne Zweifel ſicherer als durch Schrift feſtgehalten wird. So urtheilen wir denn uͤberhaupt uͤber die Geru- ſia, daß ſie ein ſchoͤnes Denkmal ſei althelleniſcher Sitte, und von edler Offenheit, einfacher Groͤße, rei- nem Vertrauen zeuge, das auf die ſittliche Wuͤrde und auf die vaͤterliche Weisheit derer, die ein langes Leben erprobt hatte, und denen das Volk nun ſein Wohl an- heim ſtellte, bauen mochte. 3. Die Funktionen der Geruſia ſind doppelt, die einer Regierungsbehoͤrde und eines Gerichts. In erſterem Be- zuge berathſchlagte ſie mit den Koͤnigen uͤber alle groͤßeren Angelegenheiten ſo weit, daß ſie zur Entſcheidung der Volksverſammlung fertig waren, und faßte nach Mehrheit der Stimmen einen Vorbeſchluß ab 2, deſſen Gewicht 1 Am beſten unter den Alten redet vielleicht Platon von die- ſen, ebd. 7. S. 793. 2 Plut. Agis 11. τοὺς γέϱοντας, οἰς τὸ κϱἀτος ἦν ἐν τῷ πϱοβουλεύειν. Vgl. Demoſth. Leptin. a. O. δ_σπότης ἐστὶ τῶν πολλῶν. vgl. Aeſchin. g. Timarch 25, 35.

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/100>, abgerufen am 25.04.2024.