Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

aus, aber sind keine Strafe für sich 1. Dagegen war
die Ehrlosigkeit, atimia, eine um so häufigere Strafe,
je tiefern Eindruck sie auf das Gemüth des Spartia-
ten machte 2. Der höchste Grad derselben, scheint es,
traf den Tresas, der aus der Schlacht mit Auflösung
oder Verlassung der Reihe davongegangen, oder über-
haupt ohne sein Heer zurückgekehrt ist, wie Aristodemos
von Thermopylä 3. Er hat zu keinem Amte Zutritt;
in den Chören den schlechtesten Platz; beim Ballspiel
will ihn keine Parthei auf ihrer Seite haben; er fin-
det in den Gymnasien keinen Kampfgenossen, wie im
Felde keinen Zeltbruder. Die Flamme seines Heerds
erlischt, weil er bei Niemand Feuer anzünden darf.
Er muß seine Töchter im Hause ernähren, oder, wenn
er unverehlicht, ein leeres Haus hüten, weil Jeder
Familienverbindung mit ihm scheut. Auf der Straße
tritt er Jedem aus dem Wege, und weicht auch dem
Jüngeren vom Sitze; in einem geflickten Rocke soll
seine geflickte Ehre, in dem halbgeschornen Kopfe seine
halbe Knechtschaft Jedem beim ersten Anblick deutlich
werden. Wobei wohl Manche gefragt haben, welches
Verdienst dann dem einzelnen Spartiaten zukomme,
wenn er lieber fällt als flieht, da dem Flüchtigen ein
Zustand bevorsteht viel schlimmer als Tod? Worauf
zu antworten, daß überall, je vollkommener Staat und
Recht, desto weniger Verdienst des Einzelnen statt fin-
det, welches dagegen in aufgelösten Zuständen, wo
Jeder an sich gewiesen, am freisten und stärksten her-

1 Nach Polyän 2, 21. wurden Angeklagte in Sp. gebunden
verhört, was in dieser Allgemeinheit gewiß nicht wahr ist.
2 Isokr.
Archidam. K. 39 ff.
3 Von der atimia desselben Herod. 7,
231. Plut. Ages. 30. Xenoph. Staat 9, 4, 5., welcher unter dem
kakos besonders den tresas versteht. Ripsaspides wurden nach
Tzetz. Chil. 12, 386. getödtet.

aus, aber ſind keine Strafe fuͤr ſich 1. Dagegen war
die Ehrloſigkeit, ἀτιμία, eine um ſo haͤufigere Strafe,
je tiefern Eindruck ſie auf das Gemuͤth des Spartia-
ten machte 2. Der hoͤchſte Grad derſelben, ſcheint es,
traf den Treſas, der aus der Schlacht mit Aufloͤſung
oder Verlaſſung der Reihe davongegangen, oder uͤber-
haupt ohne ſein Heer zuruͤckgekehrt iſt, wie Ariſtodemos
von Thermopylaͤ 3. Er hat zu keinem Amte Zutritt;
in den Choͤren den ſchlechteſten Platz; beim Ballſpiel
will ihn keine Parthei auf ihrer Seite haben; er fin-
det in den Gymnaſien keinen Kampfgenoſſen, wie im
Felde keinen Zeltbruder. Die Flamme ſeines Heerds
erliſcht, weil er bei Niemand Feuer anzuͤnden darf.
Er muß ſeine Toͤchter im Hauſe ernaͤhren, oder, wenn
er unverehlicht, ein leeres Haus huͤten, weil Jeder
Familienverbindung mit ihm ſcheut. Auf der Straße
tritt er Jedem aus dem Wege, und weicht auch dem
Juͤngeren vom Sitze; in einem geflickten Rocke ſoll
ſeine geflickte Ehre, in dem halbgeſchornen Kopfe ſeine
halbe Knechtſchaft Jedem beim erſten Anblick deutlich
werden. Wobei wohl Manche gefragt haben, welches
Verdienſt dann dem einzelnen Spartiaten zukomme,
wenn er lieber faͤllt als flieht, da dem Fluͤchtigen ein
Zuſtand bevorſteht viel ſchlimmer als Tod? Worauf
zu antworten, daß uͤberall, je vollkommener Staat und
Recht, deſto weniger Verdienſt des Einzelnen ſtatt fin-
det, welches dagegen in aufgeloͤsten Zuſtaͤnden, wo
Jeder an ſich gewieſen, am freiſten und ſtaͤrkſten her-

1 Nach Polyaͤn 2, 21. wurden Angeklagte in Sp. gebunden
verhoͤrt, was in dieſer Allgemeinheit gewiß nicht wahr iſt.
2 Iſokr.
Archidam. K. 39 ff.
3 Von der ἀτιμία deſſelben Herod. 7,
231. Plut. Ageſ. 30. Xenoph. Staat 9, 4, 5., welcher unter dem
κακὸς beſonders den τϱέσας verſteht. Ῥιψάσπιδες wurden nach
Tzetz. Chil. 12, 386. getoͤdtet.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0229" n="223"/>
aus, aber &#x017F;ind keine Strafe fu&#x0364;r &#x017F;ich <note place="foot" n="1">Nach Polya&#x0364;n 2, 21. wurden Angeklagte in Sp. gebunden<lb/>
verho&#x0364;rt, was in die&#x017F;er Allgemeinheit gewiß nicht wahr i&#x017F;t.</note>. Dagegen war<lb/>
die Ehrlo&#x017F;igkeit, &#x1F00;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BC;&#x03AF;&#x03B1;, eine um &#x017F;o ha&#x0364;ufigere Strafe,<lb/>
je tiefern Eindruck &#x017F;ie auf das Gemu&#x0364;th des Spartia-<lb/>
ten machte <note place="foot" n="2">I&#x017F;okr.<lb/>
Archidam. K. 39 ff.</note>. Der ho&#x0364;ch&#x017F;te Grad der&#x017F;elben, &#x017F;cheint es,<lb/>
traf den Tre&#x017F;as, der aus der Schlacht mit Auflo&#x0364;&#x017F;ung<lb/>
oder Verla&#x017F;&#x017F;ung der Reihe davongegangen, oder u&#x0364;ber-<lb/>
haupt ohne &#x017F;ein Heer zuru&#x0364;ckgekehrt i&#x017F;t, wie Ari&#x017F;todemos<lb/>
von Thermopyla&#x0364; <note place="foot" n="3">Von der &#x1F00;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BC;&#x03AF;&#x03B1; de&#x017F;&#x017F;elben Herod. 7,<lb/>
231. Plut. Age&#x017F;. 30. Xenoph. Staat 9, 4, 5., welcher unter dem<lb/>
&#x03BA;&#x03B1;&#x03BA;&#x1F78;&#x03C2; be&#x017F;onders den &#x03C4;&#x03F1;&#x03AD;&#x03C3;&#x03B1;&#x03C2; ver&#x017F;teht. &#x1FEC;&#x03B9;&#x03C8;&#x03AC;&#x03C3;&#x03C0;&#x03B9;&#x03B4;&#x03B5;&#x03C2; wurden nach<lb/>
Tzetz. Chil. 12, 386. geto&#x0364;dtet.</note>. Er hat zu keinem Amte Zutritt;<lb/>
in den Cho&#x0364;ren den &#x017F;chlechte&#x017F;ten Platz; beim Ball&#x017F;piel<lb/>
will ihn keine Parthei auf ihrer Seite haben; er fin-<lb/>
det in den Gymna&#x017F;ien keinen Kampfgeno&#x017F;&#x017F;en, wie im<lb/>
Felde keinen Zeltbruder. Die Flamme &#x017F;eines Heerds<lb/>
erli&#x017F;cht, weil er bei Niemand Feuer anzu&#x0364;nden darf.<lb/>
Er muß &#x017F;eine To&#x0364;chter im Hau&#x017F;e erna&#x0364;hren, oder, wenn<lb/>
er unverehlicht, ein leeres Haus hu&#x0364;ten, weil Jeder<lb/>
Familienverbindung mit ihm &#x017F;cheut. Auf der Straße<lb/>
tritt er Jedem aus dem Wege, und weicht auch dem<lb/>
Ju&#x0364;ngeren vom Sitze; in einem geflickten Rocke &#x017F;oll<lb/>
&#x017F;eine geflickte Ehre, in dem halbge&#x017F;chornen Kopfe &#x017F;eine<lb/>
halbe Knecht&#x017F;chaft Jedem beim er&#x017F;ten Anblick deutlich<lb/>
werden. Wobei wohl Manche gefragt haben, welches<lb/>
Verdien&#x017F;t dann dem einzelnen Spartiaten zukomme,<lb/>
wenn er lieber fa&#x0364;llt als flieht, da dem Flu&#x0364;chtigen ein<lb/>
Zu&#x017F;tand bevor&#x017F;teht viel &#x017F;chlimmer als Tod? Worauf<lb/>
zu antworten, daß u&#x0364;berall, je vollkommener Staat und<lb/>
Recht, de&#x017F;to weniger Verdien&#x017F;t des Einzelnen &#x017F;tatt fin-<lb/>
det, welches dagegen in aufgelo&#x0364;sten Zu&#x017F;ta&#x0364;nden, wo<lb/>
Jeder an &#x017F;ich gewie&#x017F;en, am frei&#x017F;ten und &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten her-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0229] aus, aber ſind keine Strafe fuͤr ſich 1. Dagegen war die Ehrloſigkeit, ἀτιμία, eine um ſo haͤufigere Strafe, je tiefern Eindruck ſie auf das Gemuͤth des Spartia- ten machte 2. Der hoͤchſte Grad derſelben, ſcheint es, traf den Treſas, der aus der Schlacht mit Aufloͤſung oder Verlaſſung der Reihe davongegangen, oder uͤber- haupt ohne ſein Heer zuruͤckgekehrt iſt, wie Ariſtodemos von Thermopylaͤ 3. Er hat zu keinem Amte Zutritt; in den Choͤren den ſchlechteſten Platz; beim Ballſpiel will ihn keine Parthei auf ihrer Seite haben; er fin- det in den Gymnaſien keinen Kampfgenoſſen, wie im Felde keinen Zeltbruder. Die Flamme ſeines Heerds erliſcht, weil er bei Niemand Feuer anzuͤnden darf. Er muß ſeine Toͤchter im Hauſe ernaͤhren, oder, wenn er unverehlicht, ein leeres Haus huͤten, weil Jeder Familienverbindung mit ihm ſcheut. Auf der Straße tritt er Jedem aus dem Wege, und weicht auch dem Juͤngeren vom Sitze; in einem geflickten Rocke ſoll ſeine geflickte Ehre, in dem halbgeſchornen Kopfe ſeine halbe Knechtſchaft Jedem beim erſten Anblick deutlich werden. Wobei wohl Manche gefragt haben, welches Verdienſt dann dem einzelnen Spartiaten zukomme, wenn er lieber faͤllt als flieht, da dem Fluͤchtigen ein Zuſtand bevorſteht viel ſchlimmer als Tod? Worauf zu antworten, daß uͤberall, je vollkommener Staat und Recht, deſto weniger Verdienſt des Einzelnen ſtatt fin- det, welches dagegen in aufgeloͤsten Zuſtaͤnden, wo Jeder an ſich gewieſen, am freiſten und ſtaͤrkſten her- 1 Nach Polyaͤn 2, 21. wurden Angeklagte in Sp. gebunden verhoͤrt, was in dieſer Allgemeinheit gewiß nicht wahr iſt. 2 Iſokr. Archidam. K. 39 ff. 3 Von der ἀτιμία deſſelben Herod. 7, 231. Plut. Ageſ. 30. Xenoph. Staat 9, 4, 5., welcher unter dem κακὸς beſonders den τϱέσας verſteht. Ῥιψάσπιδες wurden nach Tzetz. Chil. 12, 386. getoͤdtet.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/229
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Die Dorier. Vier Bücher. Bd. 2. Breslau, 1824, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_hellenische03_1824/229>, abgerufen am 19.04.2024.