Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

Bildende Kunst. Formen.
leisen Hebungen und Senkungen der Oberfläche angaben als im
Marmor.


B. Charakter und Schönheit der einzelnen Formen.
1. Studien der alten Künstler.

328. Obgleich in Griechenland selbst die Aerzte, wie1
viel mehr die Künstler, von Leichensectionen durch eine
unüberwindliche Scheu zurückgehalten wurden: so eigne-2
ten sich dagegen die Griechischen Künstler durch die Ge-
legenheiten, welche das gewöhnliche Leben, besonders durch
die gymnastischen Schulen und Spiele, darbot (und auch
eigentliche Modelle fehlten ihnen nicht), bei einem her-
vorstechenden Talente der Auffassung, welches durch Ue-
bung zu einem wunderbaren Grade gesteigert wurde, die
lebendige, bewegte oder auf Bewegung hindeutende Men-
schengestalt unendlich genauer an, als es jemals durch
anatomische Studien geschehen kann. Und wenn im Ein-3
zelnen einige Unregelmäßigkeiten in ihren Arbeiten wahr-
zunehmen sind: so sind doch im Ganzen die Werke der
Griechischen Kunst in demselben Grade genauer und treuer
in der Darstellung der Natur, als sie den besten Zeiten
näher stehn. Die Statuen von Parthenon zeigen darin
die höchste Vollkommenheit; in manchen Werken Alexan-
drinischer Zeit wird die Kunst schon prunkend und ge-
wissermaßen zudringlich; bei Römischen marmorariis er-
setzt eine gewisse Schule, die sich nur an das Allgemeine
hält, die Wärme und Unmittelbarkeit eigner Naturstudien.4
Jene zu würdigen, vollkommen zu verstehn, ist auch das
genaueste Studium der anatomischen Wissenschaft zu schwach,
weil ihm die Anschauung des in der Fülle des Lebens
und dem Feuer der Bewegung seine Herrlichkeit entfal-
tenden Körpers immer entgehn muß.

1. Kurt Sprengel Gesch. der Arzneikunde i. S. 456. vermu-
thet bei Aristoteles die ersten Zergliederungsversuche, und nimmt

26*

Bildende Kunſt. Formen.
leiſen Hebungen und Senkungen der Oberfläche angaben als im
Marmor.


B. Charakter und Schoͤnheit der einzelnen Formen.
1. Studien der alten Kuͤnſtler.

328. Obgleich in Griechenland ſelbſt die Aerzte, wie1
viel mehr die Kuͤnſtler, von Leichenſectionen durch eine
unuͤberwindliche Scheu zuruͤckgehalten wurden: ſo eigne-2
ten ſich dagegen die Griechiſchen Kuͤnſtler durch die Ge-
legenheiten, welche das gewoͤhnliche Leben, beſonders durch
die gymnaſtiſchen Schulen und Spiele, darbot (und auch
eigentliche Modelle fehlten ihnen nicht), bei einem her-
vorſtechenden Talente der Auffaſſung, welches durch Ue-
bung zu einem wunderbaren Grade geſteigert wurde, die
lebendige, bewegte oder auf Bewegung hindeutende Men-
ſchengeſtalt unendlich genauer an, als es jemals durch
anatomiſche Studien geſchehen kann. Und wenn im Ein-3
zelnen einige Unregelmaͤßigkeiten in ihren Arbeiten wahr-
zunehmen ſind: ſo ſind doch im Ganzen die Werke der
Griechiſchen Kunſt in demſelben Grade genauer und treuer
in der Darſtellung der Natur, als ſie den beſten Zeiten
naͤher ſtehn. Die Statuen von Parthenon zeigen darin
die hoͤchſte Vollkommenheit; in manchen Werken Alexan-
driniſcher Zeit wird die Kunſt ſchon prunkend und ge-
wiſſermaßen zudringlich; bei Roͤmiſchen marmorariis er-
ſetzt eine gewiſſe Schule, die ſich nur an das Allgemeine
haͤlt, die Waͤrme und Unmittelbarkeit eigner Naturſtudien.4
Jene zu wuͤrdigen, vollkommen zu verſtehn, iſt auch das
genaueſte Studium der anatomiſchen Wiſſenſchaft zu ſchwach,
weil ihm die Anſchauung des in der Fuͤlle des Lebens
und dem Feuer der Bewegung ſeine Herrlichkeit entfal-
tenden Koͤrpers immer entgehn muß.

1. Kurt Sprengel Geſch. der Arzneikunde i. S. 456. vermu-
thet bei Ariſtoteles die erſten Zergliederungsverſuche, und nimmt

26*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0425" n="403"/><fw place="top" type="header">Bildende Kun&#x017F;t. Formen.</fw><lb/>
lei&#x017F;en Hebungen und Senkungen der Oberfläche angaben als im<lb/>
Marmor.</p>
                </div><lb/>
                <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
                <div n="6">
                  <head><hi rendition="#aq">B.</hi> Charakter und Scho&#x0364;nheit der einzelnen Formen.</head><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>1. Studien der alten Ku&#x0364;n&#x017F;tler.</head><lb/>
                    <p>328. Obgleich in Griechenland &#x017F;elb&#x017F;t die Aerzte, wie<note place="right">1</note><lb/>
viel mehr die Ku&#x0364;n&#x017F;tler, von Leichen&#x017F;ectionen durch eine<lb/>
unu&#x0364;berwindliche Scheu zuru&#x0364;ckgehalten wurden: &#x017F;o eigne-<note place="right">2</note><lb/>
ten &#x017F;ich dagegen die Griechi&#x017F;chen Ku&#x0364;n&#x017F;tler durch die Ge-<lb/>
legenheiten, welche das gewo&#x0364;hnliche Leben, be&#x017F;onders durch<lb/>
die gymna&#x017F;ti&#x017F;chen Schulen und Spiele, darbot (und auch<lb/>
eigentliche Modelle fehlten ihnen nicht), bei einem her-<lb/>
vor&#x017F;techenden Talente der Auffa&#x017F;&#x017F;ung, welches durch Ue-<lb/>
bung zu einem wunderbaren Grade ge&#x017F;teigert wurde, die<lb/>
lebendige, bewegte oder auf Bewegung hindeutende Men-<lb/>
&#x017F;chenge&#x017F;talt unendlich genauer an, als es jemals durch<lb/>
anatomi&#x017F;che Studien ge&#x017F;chehen kann. Und wenn im Ein-<note place="right">3</note><lb/>
zelnen einige Unregelma&#x0364;ßigkeiten in ihren Arbeiten wahr-<lb/>
zunehmen &#x017F;ind: &#x017F;o &#x017F;ind doch im Ganzen die Werke der<lb/>
Griechi&#x017F;chen Kun&#x017F;t in dem&#x017F;elben Grade genauer und treuer<lb/>
in der Dar&#x017F;tellung der Natur, als &#x017F;ie den be&#x017F;ten Zeiten<lb/>
na&#x0364;her &#x017F;tehn. Die Statuen von Parthenon zeigen darin<lb/>
die ho&#x0364;ch&#x017F;te Vollkommenheit; in manchen Werken Alexan-<lb/>
drini&#x017F;cher Zeit wird die Kun&#x017F;t &#x017F;chon prunkend und ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;ermaßen zudringlich; bei Ro&#x0364;mi&#x017F;chen <hi rendition="#aq">marmorariis</hi> er-<lb/>
&#x017F;etzt eine gewi&#x017F;&#x017F;e Schule, die &#x017F;ich nur an das Allgemeine<lb/>
ha&#x0364;lt, die Wa&#x0364;rme und Unmittelbarkeit eigner Natur&#x017F;tudien.<note place="right">4</note><lb/>
Jene zu wu&#x0364;rdigen, vollkommen zu ver&#x017F;tehn, i&#x017F;t auch das<lb/>
genaue&#x017F;te Studium der anatomi&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft zu &#x017F;chwach,<lb/>
weil ihm die An&#x017F;chauung des in der Fu&#x0364;lle des Lebens<lb/>
und dem Feuer der Bewegung &#x017F;eine Herrlichkeit entfal-<lb/>
tenden Ko&#x0364;rpers immer entgehn muß.</p><lb/>
                    <p>1. Kurt Sprengel Ge&#x017F;ch. der Arzneikunde <hi rendition="#k"><hi rendition="#aq">i.</hi></hi> S. 456. vermu-<lb/>
thet bei Ari&#x017F;toteles die er&#x017F;ten Zergliederungsver&#x017F;uche, und nimmt<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">26*</fw><lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[403/0425] Bildende Kunſt. Formen. leiſen Hebungen und Senkungen der Oberfläche angaben als im Marmor. B. Charakter und Schoͤnheit der einzelnen Formen. 1. Studien der alten Kuͤnſtler. 328. Obgleich in Griechenland ſelbſt die Aerzte, wie viel mehr die Kuͤnſtler, von Leichenſectionen durch eine unuͤberwindliche Scheu zuruͤckgehalten wurden: ſo eigne- ten ſich dagegen die Griechiſchen Kuͤnſtler durch die Ge- legenheiten, welche das gewoͤhnliche Leben, beſonders durch die gymnaſtiſchen Schulen und Spiele, darbot (und auch eigentliche Modelle fehlten ihnen nicht), bei einem her- vorſtechenden Talente der Auffaſſung, welches durch Ue- bung zu einem wunderbaren Grade geſteigert wurde, die lebendige, bewegte oder auf Bewegung hindeutende Men- ſchengeſtalt unendlich genauer an, als es jemals durch anatomiſche Studien geſchehen kann. Und wenn im Ein- zelnen einige Unregelmaͤßigkeiten in ihren Arbeiten wahr- zunehmen ſind: ſo ſind doch im Ganzen die Werke der Griechiſchen Kunſt in demſelben Grade genauer und treuer in der Darſtellung der Natur, als ſie den beſten Zeiten naͤher ſtehn. Die Statuen von Parthenon zeigen darin die hoͤchſte Vollkommenheit; in manchen Werken Alexan- driniſcher Zeit wird die Kunſt ſchon prunkend und ge- wiſſermaßen zudringlich; bei Roͤmiſchen marmorariis er- ſetzt eine gewiſſe Schule, die ſich nur an das Allgemeine haͤlt, die Waͤrme und Unmittelbarkeit eigner Naturſtudien. Jene zu wuͤrdigen, vollkommen zu verſtehn, iſt auch das genaueſte Studium der anatomiſchen Wiſſenſchaft zu ſchwach, weil ihm die Anſchauung des in der Fuͤlle des Lebens und dem Feuer der Bewegung ſeine Herrlichkeit entfal- tenden Koͤrpers immer entgehn muß. 1 2 3 4 1. Kurt Sprengel Geſch. der Arzneikunde i. S. 456. vermu- thet bei Ariſtoteles die erſten Zergliederungsverſuche, und nimmt 26*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/425
Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/425>, abgerufen am 24.04.2024.