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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Einleitung
ist in der Regel nichts als die Kunst ein Relief im Kleinen mittel-
bar hervorzubringen.


128. Die redenden Künste haben in ihren Dar-
stellungsformen von den andern viel mehr Abweichendes
als diese untereinander. Auch sie stellen äußerlich, sinn-
lich dar, und folgen äußerlichen Formgesetzen (der Eu-
phonie, der Rhythmik), aber diese äußere Darstellung (der
das Ohr berührende Laut) ist so wenig wesentlich, daß
2der Genuß auch ohne sie möglich ist. Gewiß ist die Thä-
tigkeit des Dichters viel complicirter als die der andern
Künstler, und macht gewissermaßen den doppelten Weg,
indem aus dem geistigen Grunde, der Kunstidee, ge-
wisse Reihen von geistigen Anschauungen, von Phanta-
siebildern erwachsen, welche die ihrer Natur nach begriff-
liche Sprache alsdann zu erfassen und mitzutheilen sucht.

Auch kann man nicht läugnen, daß eine jede Rede, welche
Empfindungen auf eine befriedigende und wohlthuende Weise an-
regt, einem Kunstwerke verwandt sei; dies findet aber nicht blos
bei der eigentlichen Beredsamkeit, sondern auch z. B. beim klaren
philosophischen Vortrage statt.


4. Allgemeines über die geschichtliche Erscheinung
der Kunst, insonderheit der bildenden
.

129. Die gesammte Kunstthätigkeit, insofern sie von
dem geistigen Leben und den Gewöhnungen einer einzel-
nen Person abhängt, wird eine individuelle; von dem
2einer Nation, eine nationale. Sie wird durch Beides
eben so in den Kunstideen als in der Formenwahl be-
stimmt, und nach der Wandelbarkeit des Lebens von
Individuen und Nationen in verschiedenen Zeiten und
3Entwickelungsstufen auf verschiedene Weise bestimmt. Diese
Bestimmung, welche die Kunst dadurch erhält, nennen
wir den Styl.

Einleitung
iſt in der Regel nichts als die Kunſt ein Relief im Kleinen mittel-
bar hervorzubringen.


128. Die redenden Kuͤnſte haben in ihren Dar-
ſtellungsformen von den andern viel mehr Abweichendes
als dieſe untereinander. Auch ſie ſtellen aͤußerlich, ſinn-
lich dar, und folgen aͤußerlichen Formgeſetzen (der Eu-
phonie, der Rhythmik), aber dieſe aͤußere Darſtellung (der
das Ohr beruͤhrende Laut) iſt ſo wenig weſentlich, daß
2der Genuß auch ohne ſie moͤglich iſt. Gewiß iſt die Thaͤ-
tigkeit des Dichters viel complicirter als die der andern
Kuͤnſtler, und macht gewiſſermaßen den doppelten Weg,
indem aus dem geiſtigen Grunde, der Kunſtidee, ge-
wiſſe Reihen von geiſtigen Anſchauungen, von Phanta-
ſiebildern erwachſen, welche die ihrer Natur nach begriff-
liche Sprache alsdann zu erfaſſen und mitzutheilen ſucht.

Auch kann man nicht läugnen, daß eine jede Rede, welche
Empfindungen auf eine befriedigende und wohlthuende Weiſe an-
regt, einem Kunſtwerke verwandt ſei; dies findet aber nicht blos
bei der eigentlichen Beredſamkeit, ſondern auch z. B. beim klaren
philoſophiſchen Vortrage ſtatt.


4. Allgemeines uͤber die geſchichtliche Erſcheinung
der Kunſt, inſonderheit der bildenden
.

129. Die geſammte Kunſtthaͤtigkeit, inſofern ſie von
dem geiſtigen Leben und den Gewoͤhnungen einer einzel-
nen Perſon abhaͤngt, wird eine individuelle; von dem
2einer Nation, eine nationale. Sie wird durch Beides
eben ſo in den Kunſtideen als in der Formenwahl be-
ſtimmt, und nach der Wandelbarkeit des Lebens von
Individuen und Nationen in verſchiedenen Zeiten und
3Entwickelungsſtufen auf verſchiedene Weiſe beſtimmt. Dieſe
Beſtimmung, welche die Kunſt dadurch erhaͤlt, nennen
wir den Styl.

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[14/0036] Einleitung iſt in der Regel nichts als die Kunſt ein Relief im Kleinen mittel- bar hervorzubringen. 28. Die redenden Kuͤnſte haben in ihren Dar- ſtellungsformen von den andern viel mehr Abweichendes als dieſe untereinander. Auch ſie ſtellen aͤußerlich, ſinn- lich dar, und folgen aͤußerlichen Formgeſetzen (der Eu- phonie, der Rhythmik), aber dieſe aͤußere Darſtellung (der das Ohr beruͤhrende Laut) iſt ſo wenig weſentlich, daß der Genuß auch ohne ſie moͤglich iſt. Gewiß iſt die Thaͤ- tigkeit des Dichters viel complicirter als die der andern Kuͤnſtler, und macht gewiſſermaßen den doppelten Weg, indem aus dem geiſtigen Grunde, der Kunſtidee, ge- wiſſe Reihen von geiſtigen Anſchauungen, von Phanta- ſiebildern erwachſen, welche die ihrer Natur nach begriff- liche Sprache alsdann zu erfaſſen und mitzutheilen ſucht. 1 2 Auch kann man nicht läugnen, daß eine jede Rede, welche Empfindungen auf eine befriedigende und wohlthuende Weiſe an- regt, einem Kunſtwerke verwandt ſei; dies findet aber nicht blos bei der eigentlichen Beredſamkeit, ſondern auch z. B. beim klaren philoſophiſchen Vortrage ſtatt. 4. Allgemeines uͤber die geſchichtliche Erſcheinung der Kunſt, inſonderheit der bildenden. 29. Die geſammte Kunſtthaͤtigkeit, inſofern ſie von dem geiſtigen Leben und den Gewoͤhnungen einer einzel- nen Perſon abhaͤngt, wird eine individuelle; von dem einer Nation, eine nationale. Sie wird durch Beides eben ſo in den Kunſtideen als in der Formenwahl be- ſtimmt, und nach der Wandelbarkeit des Lebens von Individuen und Nationen in verſchiedenen Zeiten und Entwickelungsſtufen auf verſchiedene Weiſe beſtimmt. Dieſe Beſtimmung, welche die Kunſt dadurch erhaͤlt, nennen wir den Styl. 1 2 3

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/36>, abgerufen am 28.03.2024.