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Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830.

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Systematischer Theil.
ist es völlig unmöglich die alten Kanones wieder aufzu-
finden, wenn man nicht die kürzeren, nach antikem Aus-
druck quadratischen, Proportionen der frühern Kunst,
welche mehr aus der Griechischen Nationalbildung (§. 329,
3.) geschöpft waren, von den svelteren der späteren Kunst,
mehr aus künstlerischen Prinzipien und Absichten hervor-
gegangenen, unterscheidet, und die dazwischen stehenden
3Mittelstufen (§. 130, 2.) nicht unberücksichtigt läßt. Wäh-
rend die Neueren die Kopfhöhe als Einheit zum Grunde
legen, war bei den Alten die Fußlänge das übliche Maaß;
dessen Verhältniß zur Gesammthöhe im Ganzen festgehal-
ten wurde.

2. Frühere Messungen nach Statuen von Audran. Neuere,
nach 42 Hauptstatuen, von Clarac im Musee de Sculpt. p. 194
sqq.
mitgetheilt. Man nimmt dabei den Kopf als Einheit,
und theilt ihn in Biertel: 1. vom Scheitel bis zu den Haar-
wurzeln über der Stirn; 2. bis zu der Nasenwurzel; 3. bis zu
der Oberlippe; 4. bis zum Ende des Kinns. Aber 1 und beson-
ders 2 sind schwächer als 3 u. 4. Bitruv, iii, 1., erkennt 1,
2, 3, als gleich an, 4 ist bei ihm etwas geringer. Vgl. Winckel-
mann iv S. 167., welcher Mengs Ansichten mittheilt. Jedes
Viertel theilt man hernach wieder in 12 Minuten. Ueber das
Verhältniß der Gesammthöhe zu diesem modulus §. 130, 3.
Drei Distanzen pflegen sich ungefähr gleich zu sein: 1. die von
dem obern Anfang des Brustbeins bis zum Ende des abdomen,
2. die vom Nabel bis zum obern Anfang der Kniescheibe; 3. die
von da bis auf die Sohlen. Doch bemerkt man darin folgenden
Unterschied. Beim Borghesischen Achill (nach ältern Proportionen
§. 130, 3.) sind sich 1. u. 2 gleich (2, 1, 7), 3 bedeutend klei-
ner (2, 0, 9.); beim Capitol. Faun dagegen und dem Coloss von
M. Cavallo ist 2 bedeutend größer als 1, und 3 dagegen gleich 1.
(Beim Faun ist 1 = 2, 1, 9. 2 = 2, 2, 9. 3 =
2, 1, 9; beim Coloss 1 = 2, 2, 5. 2 = 2, 2, 11.
3 = 2, 2, 5). Beim Farnes. Hercules wird 3 gleich 2
(1 = 2, 2, 5. 2 = 2, 2, 9. 3 = 2, 2, 9.);
beim Belveder. Apoll steigt 3 über 2 (1 = 2, 1, 4. 2 =
2, 1, 5. 3 = 2, 1, 9.). Dies scheint also der Fortschritt
der Kunst gewesen zu sein, daß von den angegebenen drei Distanzen
die zweite gegen die erste, die dritte gegen die zweite her-
anwächst; mit andern Worten: daß die Figuren immer hochbei-
niger
werden. Bei Kindern bleibt aber immer 1 bedeutend grö-

Syſtematiſcher Theil.
iſt es voͤllig unmoͤglich die alten Kanones wieder aufzu-
finden, wenn man nicht die kuͤrzeren, nach antikem Aus-
druck quadratiſchen, Proportionen der fruͤhern Kunſt,
welche mehr aus der Griechiſchen Nationalbildung (§. 329,
3.) geſchoͤpft waren, von den ſvelteren der ſpaͤteren Kunſt,
mehr aus kuͤnſtleriſchen Prinzipien und Abſichten hervor-
gegangenen, unterſcheidet, und die dazwiſchen ſtehenden
3Mittelſtufen (§. 130, 2.) nicht unberuͤckſichtigt laͤßt. Waͤh-
rend die Neueren die Kopfhoͤhe als Einheit zum Grunde
legen, war bei den Alten die Fußlaͤnge das uͤbliche Maaß;
deſſen Verhaͤltniß zur Geſammthoͤhe im Ganzen feſtgehal-
ten wurde.

2. Frühere Meſſungen nach Statuen von Audran. Neuere,
nach 42 Hauptſtatuen, von Clarac im Musée de Sculpt. p. 194
sqq.
mitgetheilt. Man nimmt dabei den Kopf als Einheit,
und theilt ihn in Biertel: 1. vom Scheitel bis zu den Haar-
wurzeln über der Stirn; 2. bis zu der Naſenwurzel; 3. bis zu
der Oberlippe; 4. bis zum Ende des Kinns. Aber 1 und beſon-
ders 2 ſind ſchwächer als 3 u. 4. Bitruv, iii, 1., erkennt 1,
2, 3, als gleich an, 4 iſt bei ihm etwas geringer. Vgl. Winckel-
mann iv S. 167., welcher Mengs Anſichten mittheilt. Jedes
Viertel theilt man hernach wieder in 12 Minuten. Ueber das
Verhältniß der Geſammthöhe zu dieſem modulus §. 130, 3.
Drei Diſtanzen pflegen ſich ungefähr gleich zu ſein: 1. die von
dem obern Anfang des Bruſtbeins bis zum Ende des abdomen,
2. die vom Nabel bis zum obern Anfang der Knieſcheibe; 3. die
von da bis auf die Sohlen. Doch bemerkt man darin folgenden
Unterſchied. Beim Borgheſiſchen Achill (nach ältern Proportionen
§. 130, 3.) ſind ſich 1. u. 2 gleich (2, 1, 7), 3 bedeutend klei-
ner (2, 0, 9.); beim Capitol. Faun dagegen und dem Coloſſ von
M. Cavallo iſt 2 bedeutend größer als 1, und 3 dagegen gleich 1.
(Beim Faun iſt 1 = 2, 1, 9. 2 = 2, 2, 9. 3 =
2, 1, 9; beim Coloſſ 1 = 2, 2, 5. 2 = 2, 2, 11.
3 = 2, 2, 5). Beim Farneſ. Hercules wird 3 gleich 2
(1 = 2, 2, 5. 2 = 2, 2, 9. 3 = 2, 2, 9.);
beim Belveder. Apoll ſteigt 3 über 2 (1 = 2, 1, 4. 2 =
2, 1, 5. 3 = 2, 1, 9.). Dies ſcheint alſo der Fortſchritt
der Kunſt geweſen zu ſein, daß von den angegebenen drei Diſtanzen
die zweite gegen die erſte, die dritte gegen die zweite her-
anwächſt; mit andern Worten: daß die Figuren immer hochbei-
niger
werden. Bei Kindern bleibt aber immer 1 bedeutend grö-

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[412/0434] Syſtematiſcher Theil. iſt es voͤllig unmoͤglich die alten Kanones wieder aufzu- finden, wenn man nicht die kuͤrzeren, nach antikem Aus- druck quadratiſchen, Proportionen der fruͤhern Kunſt, welche mehr aus der Griechiſchen Nationalbildung (§. 329, 3.) geſchoͤpft waren, von den ſvelteren der ſpaͤteren Kunſt, mehr aus kuͤnſtleriſchen Prinzipien und Abſichten hervor- gegangenen, unterſcheidet, und die dazwiſchen ſtehenden Mittelſtufen (§. 130, 2.) nicht unberuͤckſichtigt laͤßt. Waͤh- rend die Neueren die Kopfhoͤhe als Einheit zum Grunde legen, war bei den Alten die Fußlaͤnge das uͤbliche Maaß; deſſen Verhaͤltniß zur Geſammthoͤhe im Ganzen feſtgehal- ten wurde. 3 2. Frühere Meſſungen nach Statuen von Audran. Neuere, nach 42 Hauptſtatuen, von Clarac im Musée de Sculpt. p. 194 sqq. mitgetheilt. Man nimmt dabei den Kopf als Einheit, und theilt ihn in Biertel: 1. vom Scheitel bis zu den Haar- wurzeln über der Stirn; 2. bis zu der Naſenwurzel; 3. bis zu der Oberlippe; 4. bis zum Ende des Kinns. Aber 1 und beſon- ders 2 ſind ſchwächer als 3 u. 4. Bitruv, iii, 1., erkennt 1, 2, 3, als gleich an, 4 iſt bei ihm etwas geringer. Vgl. Winckel- mann iv S. 167., welcher Mengs Anſichten mittheilt. Jedes Viertel theilt man hernach wieder in 12 Minuten. Ueber das Verhältniß der Geſammthöhe zu dieſem modulus §. 130, 3. Drei Diſtanzen pflegen ſich ungefähr gleich zu ſein: 1. die von dem obern Anfang des Bruſtbeins bis zum Ende des abdomen, 2. die vom Nabel bis zum obern Anfang der Knieſcheibe; 3. die von da bis auf die Sohlen. Doch bemerkt man darin folgenden Unterſchied. Beim Borgheſiſchen Achill (nach ältern Proportionen §. 130, 3.) ſind ſich 1. u. 2 gleich (2, 1, 7), 3 bedeutend klei- ner (2, 0, 9.); beim Capitol. Faun dagegen und dem Coloſſ von M. Cavallo iſt 2 bedeutend größer als 1, und 3 dagegen gleich 1. (Beim Faun iſt 1 = 2, 1, 9. 2 = 2, 2, 9. 3 = 2, 1, 9; beim Coloſſ 1 = 2, 2, 5. 2 = 2, 2, 11. 3 = 2, 2, 5). Beim Farneſ. Hercules wird 3 gleich 2 (1 = 2, 2, 5. 2 = 2, 2, 9. 3 = 2, 2, 9.); beim Belveder. Apoll ſteigt 3 über 2 (1 = 2, 1, 4. 2 = 2, 1, 5. 3 = 2, 1, 9.). Dies ſcheint alſo der Fortſchritt der Kunſt geweſen zu ſein, daß von den angegebenen drei Diſtanzen die zweite gegen die erſte, die dritte gegen die zweite her- anwächſt; mit andern Worten: daß die Figuren immer hochbei- niger werden. Bei Kindern bleibt aber immer 1 bedeutend grö-

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Zitationshilfe: Müller, Karl Otfried: Handbuch der Archäologie der Kunst. Breslau, 1830, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_kunst_1830/434>, abgerufen am 25.04.2024.