Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite



schien das sehr übertrieben zu seyn, was Jesus sagt:
Wer ein Weib ansieht ihr zu begehren, der hat schon
die Ehe mit ihr gebrochen. Das Ansehen, dachte ich,
wenn es auch mit Begierde verbunden ist, kann ja nichts
böses seyn, wenn weiter nichts geschieht. Aber nun
folgte auf die Begierde das Nachdenken über die Mittel
sie zu befriedigen von selbst. Sah ich erst Mittel, so
schien es mir zu viel gefordert zu seyn, daß ich sie nicht
auch anwenden sollte. Jch wendete sie an, ich sättigte
meine ausschweifende Triebe, und nun hatte ich eine
ganze Reihe von Sünden begangen, die ich alle vermie-
den haben würde, wenn ich vor der ersten Sünde, vor
dem Wohlgefallen an der bösen Lust und vor ihrer Unter-
haltung geflohen wäre. Nun suchte ich mich zu entschul-
digen. Jch kann ja nichts davor, sagte ich, daß ich so
viel Temperament, so viel Neigung zur Wollust habe.
Es muß also mir wenigstens nicht unerlaubt seyn wollü-
stig zu leben. Jn solchen Vorstellungen bestärkte mich
dann die würklich übertriebene Strenge der Sittenlehrer
meiner Jugend. Daß Jesus uns alles unschädliche
erlaube, daß die Moral des Christenthums uns keine
unschuldige Freude verbiete, das ward mir nicht gesagt.
Alles ohne Unterschied, wozu ich Lust hatte, ward mir
zur Sünde gemacht. Manschetten tragen, Puder in die
Haare werfen, das ward mit eben solcher Ernstlichkeit für
gottlos erklärt, als offenbahre sündliche Ausschweifun-
gen. Nun dachte ich: jenes kann doch unmöglich Sünde
seyn, und läßt sich auch nicht in der Welt vermeiden,
also werden dieses auch unschuldige und unvermeidliche
Dinge seyn. Jch weiß, ich schloß falsch, aber ich war
jung, meine Begierden wüteten und meine Anführer
hätten verständiger seyn sollen.

Auf eine ähnliche Art, setzte er hinzu, richten
auch diejenigen Lehrer des Christenthums wider ihren

Willen



ſchien das ſehr uͤbertrieben zu ſeyn, was Jeſus ſagt:
Wer ein Weib anſieht ihr zu begehren, der hat ſchon
die Ehe mit ihr gebrochen. Das Anſehen, dachte ich,
wenn es auch mit Begierde verbunden iſt, kann ja nichts
boͤſes ſeyn, wenn weiter nichts geſchieht. Aber nun
folgte auf die Begierde das Nachdenken uͤber die Mittel
ſie zu befriedigen von ſelbſt. Sah ich erſt Mittel, ſo
ſchien es mir zu viel gefordert zu ſeyn, daß ich ſie nicht
auch anwenden ſollte. Jch wendete ſie an, ich ſaͤttigte
meine ausſchweifende Triebe, und nun hatte ich eine
ganze Reihe von Suͤnden begangen, die ich alle vermie-
den haben wuͤrde, wenn ich vor der erſten Suͤnde, vor
dem Wohlgefallen an der boͤſen Luſt und vor ihrer Unter-
haltung geflohen waͤre. Nun ſuchte ich mich zu entſchul-
digen. Jch kann ja nichts davor, ſagte ich, daß ich ſo
viel Temperament, ſo viel Neigung zur Wolluſt habe.
Es muß alſo mir wenigſtens nicht unerlaubt ſeyn wolluͤ-
ſtig zu leben. Jn ſolchen Vorſtellungen beſtaͤrkte mich
dann die wuͤrklich uͤbertriebene Strenge der Sittenlehrer
meiner Jugend. Daß Jeſus uns alles unſchaͤdliche
erlaube, daß die Moral des Chriſtenthums uns keine
unſchuldige Freude verbiete, das ward mir nicht geſagt.
Alles ohne Unterſchied, wozu ich Luſt hatte, ward mir
zur Suͤnde gemacht. Manſchetten tragen, Puder in die
Haare werfen, das ward mit eben ſolcher Ernſtlichkeit fuͤr
gottlos erklaͤrt, als offenbahre ſuͤndliche Ausſchweifun-
gen. Nun dachte ich: jenes kann doch unmoͤglich Suͤnde
ſeyn, und laͤßt ſich auch nicht in der Welt vermeiden,
alſo werden dieſes auch unſchuldige und unvermeidliche
Dinge ſeyn. Jch weiß, ich ſchloß falſch, aber ich war
jung, meine Begierden wuͤteten und meine Anfuͤhrer
haͤtten verſtaͤndiger ſeyn ſollen.

Auf eine aͤhnliche Art, ſetzte er hinzu, richten
auch diejenigen Lehrer des Chriſtenthums wider ihren

Willen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0150" n="138"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;chien das &#x017F;ehr u&#x0364;bertrieben zu &#x017F;eyn, was Je&#x017F;us &#x017F;agt:<lb/>
Wer ein Weib an&#x017F;ieht ihr zu begehren, der hat &#x017F;chon<lb/>
die Ehe mit ihr gebrochen. Das An&#x017F;ehen, dachte ich,<lb/>
wenn es auch mit Begierde verbunden i&#x017F;t, kann ja nichts<lb/>
bo&#x0364;&#x017F;es &#x017F;eyn, wenn weiter nichts ge&#x017F;chieht. Aber nun<lb/>
folgte auf die Begierde das Nachdenken u&#x0364;ber die Mittel<lb/>
&#x017F;ie zu befriedigen von &#x017F;elb&#x017F;t. Sah ich er&#x017F;t Mittel, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chien es mir zu viel gefordert zu &#x017F;eyn, daß ich &#x017F;ie nicht<lb/>
auch anwenden &#x017F;ollte. Jch wendete &#x017F;ie an, ich &#x017F;a&#x0364;ttigte<lb/>
meine aus&#x017F;chweifende Triebe, und nun hatte ich eine<lb/>
ganze Reihe von Su&#x0364;nden begangen, die ich alle vermie-<lb/>
den haben wu&#x0364;rde, wenn ich vor der er&#x017F;ten Su&#x0364;nde, vor<lb/>
dem Wohlgefallen an der bo&#x0364;&#x017F;en Lu&#x017F;t und vor ihrer Unter-<lb/>
haltung geflohen wa&#x0364;re. Nun &#x017F;uchte ich mich zu ent&#x017F;chul-<lb/>
digen. Jch kann ja nichts davor, &#x017F;agte ich, daß ich &#x017F;o<lb/>
viel Temperament, &#x017F;o viel Neigung zur Wollu&#x017F;t habe.<lb/>
Es muß al&#x017F;o mir wenig&#x017F;tens nicht unerlaubt &#x017F;eyn wollu&#x0364;-<lb/>
&#x017F;tig zu leben. Jn &#x017F;olchen Vor&#x017F;tellungen be&#x017F;ta&#x0364;rkte mich<lb/>
dann die wu&#x0364;rklich u&#x0364;bertriebene Strenge der Sittenlehrer<lb/>
meiner Jugend. Daß Je&#x017F;us uns alles un&#x017F;cha&#x0364;dliche<lb/>
erlaube, daß die Moral des Chri&#x017F;tenthums uns keine<lb/>
un&#x017F;chuldige Freude verbiete, das ward mir nicht ge&#x017F;agt.<lb/>
Alles ohne Unter&#x017F;chied, wozu ich Lu&#x017F;t hatte, ward mir<lb/>
zur Su&#x0364;nde gemacht. Man&#x017F;chetten tragen, Puder in die<lb/>
Haare werfen, das ward mit eben &#x017F;olcher Ern&#x017F;tlichkeit fu&#x0364;r<lb/>
gottlos erkla&#x0364;rt, als offenbahre &#x017F;u&#x0364;ndliche Aus&#x017F;chweifun-<lb/>
gen. Nun dachte ich: jenes kann doch unmo&#x0364;glich Su&#x0364;nde<lb/>
&#x017F;eyn, und la&#x0364;ßt &#x017F;ich auch nicht in der Welt vermeiden,<lb/>
al&#x017F;o werden die&#x017F;es auch un&#x017F;chuldige und unvermeidliche<lb/>
Dinge &#x017F;eyn. Jch weiß, ich &#x017F;chloß fal&#x017F;ch, aber ich war<lb/>
jung, meine Begierden wu&#x0364;teten und meine Anfu&#x0364;hrer<lb/>
ha&#x0364;tten ver&#x017F;ta&#x0364;ndiger &#x017F;eyn &#x017F;ollen.</p><lb/>
        <p>Auf eine a&#x0364;hnliche Art, &#x017F;etzte er hinzu, richten<lb/>
auch diejenigen Lehrer des Chri&#x017F;tenthums wider ihren<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Willen</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0150] ſchien das ſehr uͤbertrieben zu ſeyn, was Jeſus ſagt: Wer ein Weib anſieht ihr zu begehren, der hat ſchon die Ehe mit ihr gebrochen. Das Anſehen, dachte ich, wenn es auch mit Begierde verbunden iſt, kann ja nichts boͤſes ſeyn, wenn weiter nichts geſchieht. Aber nun folgte auf die Begierde das Nachdenken uͤber die Mittel ſie zu befriedigen von ſelbſt. Sah ich erſt Mittel, ſo ſchien es mir zu viel gefordert zu ſeyn, daß ich ſie nicht auch anwenden ſollte. Jch wendete ſie an, ich ſaͤttigte meine ausſchweifende Triebe, und nun hatte ich eine ganze Reihe von Suͤnden begangen, die ich alle vermie- den haben wuͤrde, wenn ich vor der erſten Suͤnde, vor dem Wohlgefallen an der boͤſen Luſt und vor ihrer Unter- haltung geflohen waͤre. Nun ſuchte ich mich zu entſchul- digen. Jch kann ja nichts davor, ſagte ich, daß ich ſo viel Temperament, ſo viel Neigung zur Wolluſt habe. Es muß alſo mir wenigſtens nicht unerlaubt ſeyn wolluͤ- ſtig zu leben. Jn ſolchen Vorſtellungen beſtaͤrkte mich dann die wuͤrklich uͤbertriebene Strenge der Sittenlehrer meiner Jugend. Daß Jeſus uns alles unſchaͤdliche erlaube, daß die Moral des Chriſtenthums uns keine unſchuldige Freude verbiete, das ward mir nicht geſagt. Alles ohne Unterſchied, wozu ich Luſt hatte, ward mir zur Suͤnde gemacht. Manſchetten tragen, Puder in die Haare werfen, das ward mit eben ſolcher Ernſtlichkeit fuͤr gottlos erklaͤrt, als offenbahre ſuͤndliche Ausſchweifun- gen. Nun dachte ich: jenes kann doch unmoͤglich Suͤnde ſeyn, und laͤßt ſich auch nicht in der Welt vermeiden, alſo werden dieſes auch unſchuldige und unvermeidliche Dinge ſeyn. Jch weiß, ich ſchloß falſch, aber ich war jung, meine Begierden wuͤteten und meine Anfuͤhrer haͤtten verſtaͤndiger ſeyn ſollen. Auf eine aͤhnliche Art, ſetzte er hinzu, richten auch diejenigen Lehrer des Chriſtenthums wider ihren Willen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/150
Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/150>, abgerufen am 19.04.2024.