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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

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überall mit ihrem Herzpatron sehr viel Aehn-
lichkeit gehabt haben. Oder ist ihr Herz
noch res nullius die dem ersten Besitzneh-
mer anheim fällt, sich bloß leidend verhält
und alles sich gefallen läßt? Oder sollte
sie wohl gar mein Absehen vermerkt und ihr
muthwilliges Spiel mit mir getrieben haben
mich zu hetzen? Toll genug! -- Aber
wenn ich ihre Physiognomie betracht', die
offne Stirn, ihr unbefangnes Auge, aus
dem keine Schalkheit hervorsieht, die Tink-
tur von Bescheidenheit und mackelloser Un-
schuld im naifen Blick und in den Mienen:
so kan ich ihr weder die Verschmiztheit noch
den Muthwillen zutrauen, mich am Narren-
seil umführen zu wollen. Daß sie allen
Freyern gleichen Werth giebt ist mir viel-
mehr Beweiß, daß sie keinen ins Herz ge-
schlossen habe, und ich urtheile daraus, sie
gehöre in der Gemeinde der Liebenden noch
nicht zu den Jnspirirten, sondern zur Jn-

differen-
O 3

uͤberall mit ihrem Herzpatron ſehr viel Aehn-
lichkeit gehabt haben. Oder iſt ihr Herz
noch res nullius die dem erſten Beſitzneh-
mer anheim faͤllt, ſich bloß leidend verhaͤlt
und alles ſich gefallen laͤßt? Oder ſollte
ſie wohl gar mein Abſehen vermerkt und ihr
muthwilliges Spiel mit mir getrieben haben
mich zu hetzen? Toll genug! — Aber
wenn ich ihre Phyſiognomie betracht’, die
offne Stirn, ihr unbefangnes Auge, aus
dem keine Schalkheit hervorſieht, die Tink-
tur von Beſcheidenheit und mackelloſer Un-
ſchuld im naifen Blick und in den Mienen:
ſo kan ich ihr weder die Verſchmiztheit noch
den Muthwillen zutrauen, mich am Narren-
ſeil umfuͤhren zu wollen. Daß ſie allen
Freyern gleichen Werth giebt iſt mir viel-
mehr Beweiß, daß ſie keinen ins Herz ge-
ſchloſſen habe, und ich urtheile daraus, ſie
gehoͤre in der Gemeinde der Liebenden noch
nicht zu den Jnſpirirten, ſondern zur Jn-

differen-
O 3
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[213/0221] uͤberall mit ihrem Herzpatron ſehr viel Aehn- lichkeit gehabt haben. Oder iſt ihr Herz noch res nullius die dem erſten Beſitzneh- mer anheim faͤllt, ſich bloß leidend verhaͤlt und alles ſich gefallen laͤßt? Oder ſollte ſie wohl gar mein Abſehen vermerkt und ihr muthwilliges Spiel mit mir getrieben haben mich zu hetzen? Toll genug! — Aber wenn ich ihre Phyſiognomie betracht’, die offne Stirn, ihr unbefangnes Auge, aus dem keine Schalkheit hervorſieht, die Tink- tur von Beſcheidenheit und mackelloſer Un- ſchuld im naifen Blick und in den Mienen: ſo kan ich ihr weder die Verſchmiztheit noch den Muthwillen zutrauen, mich am Narren- ſeil umfuͤhren zu wollen. Daß ſie allen Freyern gleichen Werth giebt iſt mir viel- mehr Beweiß, daß ſie keinen ins Herz ge- ſchloſſen habe, und ich urtheile daraus, ſie gehoͤre in der Gemeinde der Liebenden noch nicht zu den Jnſpirirten, ſondern zur Jn- differen- O 3

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/221>, abgerufen am 18.04.2024.