Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte
sie eine reiche Schwester, die ihr in der Noth eine
Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen
Einfluß auf Frau Krauter geübt; sie war leichtsinnig
geblieben, war faul, unordentlich und genußsüchtig,
und wenn sie auch reichlich Thränen über sich und
ihre Schicksale vergießen konnte, die Thränen kamen
nicht tief aus dem Herzen; bei einer Tasse Kaffee
und einem leichtfertigen Geschwätz war bald Alles ver¬
gessen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur
daß sie noch schöner und zugleich schlauer war, und
so der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß ge¬
geben.

Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die sehr
wohlhabende Wittwe des seligen Seifensiedermeisters
Bendler, war ganz das Gegentheil der Schwester.
Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, schlichte Bürgers¬
frau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter
und Tochter zu üben gesucht; sie erlangte nur das
eine, daß beide sich vor ihr scheuten und sich soviel
als möglich von der besten Seite zeigten; und das
war freilich schlimmer, als wenn sie sich in ihrer wah¬
ren Gestalt gezeigt hätten.

Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitge¬
theilte Zwiegespräch gehabt, rüstete sie sich singend zu
ihrem Sonntagsvergnügen. Die seidene Mantille
ward umgethan, und das Geld, das da herausgepol¬
tert, in die Tasche gesteckt. Darauf suchte sie aus ei¬
nem Wust anderer Sachen ein gesticktes baumwollenes
Taschentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn
ein langes Ende abgerissener Spitze hing daran. Sie

blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte
ſie eine reiche Schweſter, die ihr in der Noth eine
Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen
Einfluß auf Frau Krauter geübt; ſie war leichtſinnig
geblieben, war faul, unordentlich und genußſüchtig,
und wenn ſie auch reichlich Thränen über ſich und
ihre Schickſale vergießen konnte, die Thränen kamen
nicht tief aus dem Herzen; bei einer Taſſe Kaffee
und einem leichtfertigen Geſchwätz war bald Alles ver¬
geſſen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur
daß ſie noch ſchöner und zugleich ſchlauer war, und
ſo der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß ge¬
geben.

Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die ſehr
wohlhabende Wittwe des ſeligen Seifenſiedermeiſters
Bendler, war ganz das Gegentheil der Schweſter.
Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, ſchlichte Bürgers¬
frau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter
und Tochter zu üben geſucht; ſie erlangte nur das
eine, daß beide ſich vor ihr ſcheuten und ſich ſoviel
als möglich von der beſten Seite zeigten; und das
war freilich ſchlimmer, als wenn ſie ſich in ihrer wah¬
ren Geſtalt gezeigt hätten.

Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitge¬
theilte Zwiegeſpräch gehabt, rüſtete ſie ſich ſingend zu
ihrem Sonntagsvergnügen. Die ſeidene Mantille
ward umgethan, und das Geld, das da herausgepol¬
tert, in die Taſche geſteckt. Darauf ſuchte ſie aus ei¬
nem Wuſt anderer Sachen ein geſticktes baumwollenes
Taſchentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn
ein langes Ende abgeriſſener Spitze hing daran. Sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0012" n="6"/>
blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte<lb/>
&#x017F;ie eine reiche Schwe&#x017F;ter, die ihr in der Noth eine<lb/>
Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen<lb/>
Einfluß auf Frau Krauter geübt; &#x017F;ie war leicht&#x017F;innig<lb/>
geblieben, war faul, unordentlich und genuß&#x017F;üchtig,<lb/>
und wenn &#x017F;ie auch reichlich Thränen über &#x017F;ich und<lb/>
ihre Schick&#x017F;ale vergießen konnte, die Thränen kamen<lb/>
nicht tief aus dem Herzen; bei einer Ta&#x017F;&#x017F;e Kaffee<lb/>
und einem leichtfertigen Ge&#x017F;chwätz war bald Alles ver¬<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur<lb/>
daß &#x017F;ie noch &#x017F;chöner und zugleich &#x017F;chlauer war, und<lb/>
&#x017F;o der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß ge¬<lb/>
geben.</p><lb/>
      <p>Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die &#x017F;ehr<lb/>
wohlhabende Wittwe des &#x017F;eligen Seifen&#x017F;iedermei&#x017F;ters<lb/>
Bendler, war ganz das Gegentheil der Schwe&#x017F;ter.<lb/>
Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, &#x017F;chlichte Bürgers¬<lb/>
frau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter<lb/>
und Tochter zu üben ge&#x017F;ucht; &#x017F;ie erlangte nur das<lb/>
eine, daß beide &#x017F;ich vor ihr &#x017F;cheuten und &#x017F;ich &#x017F;oviel<lb/>
als möglich von der be&#x017F;ten Seite zeigten; und das<lb/>
war freilich &#x017F;chlimmer, als wenn &#x017F;ie &#x017F;ich in ihrer wah¬<lb/>
ren Ge&#x017F;talt gezeigt hätten.</p><lb/>
      <p>Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitge¬<lb/>
theilte Zwiege&#x017F;präch gehabt, rü&#x017F;tete &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;ingend zu<lb/>
ihrem Sonntagsvergnügen. Die &#x017F;eidene Mantille<lb/>
ward umgethan, und das Geld, das da herausgepol¬<lb/>
tert, in die Ta&#x017F;che ge&#x017F;teckt. Darauf &#x017F;uchte &#x017F;ie aus ei¬<lb/>
nem Wu&#x017F;t anderer Sachen ein ge&#x017F;ticktes baumwollenes<lb/>
Ta&#x017F;chentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn<lb/>
ein langes Ende abgeri&#x017F;&#x017F;ener Spitze hing daran. Sie<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0012] blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte ſie eine reiche Schweſter, die ihr in der Noth eine Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen Einfluß auf Frau Krauter geübt; ſie war leichtſinnig geblieben, war faul, unordentlich und genußſüchtig, und wenn ſie auch reichlich Thränen über ſich und ihre Schickſale vergießen konnte, die Thränen kamen nicht tief aus dem Herzen; bei einer Taſſe Kaffee und einem leichtfertigen Geſchwätz war bald Alles ver¬ geſſen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur daß ſie noch ſchöner und zugleich ſchlauer war, und ſo der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß ge¬ geben. Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die ſehr wohlhabende Wittwe des ſeligen Seifenſiedermeiſters Bendler, war ganz das Gegentheil der Schweſter. Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, ſchlichte Bürgers¬ frau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter und Tochter zu üben geſucht; ſie erlangte nur das eine, daß beide ſich vor ihr ſcheuten und ſich ſoviel als möglich von der beſten Seite zeigten; und das war freilich ſchlimmer, als wenn ſie ſich in ihrer wah¬ ren Geſtalt gezeigt hätten. Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitge¬ theilte Zwiegeſpräch gehabt, rüſtete ſie ſich ſingend zu ihrem Sonntagsvergnügen. Die ſeidene Mantille ward umgethan, und das Geld, das da herausgepol¬ tert, in die Taſche geſteckt. Darauf ſuchte ſie aus ei¬ nem Wuſt anderer Sachen ein geſticktes baumwollenes Taſchentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn ein langes Ende abgeriſſener Spitze hing daran. Sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/12
Zitationshilfe: Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/12>, abgerufen am 28.03.2024.