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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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der Gemeinschaft, das ganze menschliche Leben bis zu seiner
sinnlichsten Wurzel herab durchdringen, dass es sich bis auf
das Triebleben, und nicht auf Willen und Vernunft allein er-
strecken kann und soll.

Und so werden wir zusammenfassend sagen: dass diese
vierte Tugend die drei andern in sich begreift, nur ihnen die
neue Beziehung auf die Gemeinschaft giebt. Sie bedeutet zu-
gleich Wahrheit, Kraft und Reinheit der Sittlichkeit im
Verhalten zur Gemeinschaft
.

Zugleich ergiebt sich, dass auch auf diese Tugend An-
wendung findet, was von den drei andern in ihrem wechsel-
seitigen Verhältnis gezeigt wurde: dass jede mit jeder andern
nicht bloss harmoniert, sondern derart eins ist, dass keine sich
ohne die andre vollenden kann, während doch der begriffliche
Unterschied fest bleibt. Das ist der platonische Satz von der
Einheit der Tugenden, der eben dies besagt, dass sie alle
in der letzten Wurzel eins und derart unter einander verbunden
sind, dass jede der andern hilft und selber ohne sie nicht sein
kann, doch aber jede von der andern dem Begriff nach ver-
schieden bleibt. Aus dem Verhältnis der drei Stufen der
Aktivität einerseits und dem unauflöslichen Zusammenhang
von Individuum und Gemeinschaft andrerseits folgt dies Ver-
hältnis der Tugenden mit zwingender Notwendigkeit; wie denn
auch Plato wesentlich dies im Sinne zu haben scheint.

In der Reihenfolge unsrer vier Tugenden aber liess sich
ein stetiger Fortgang von mehr abstrakten zu immer kon-
kreteren Gestaltungen des Sittlichen beobachten. Es gilt nun
den letzten Schritt in dieser Richtung zu thun, indem wir
von der bloss individualen zur "Tugend" oder sittlichen
Ordnung des Soziallebens fortschreiten.

§ 16.
Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen
Lebens.

Der Begriff der individuellen Tugend, wie er bis dahin
entwickelt worden ist, erschöpft nicht den Gehalt der sittlichen
Verfassung auch nur des Individuallebens. Er reicht nicht

der Gemeinschaft, das ganze menschliche Leben bis zu seiner
sinnlichsten Wurzel herab durchdringen, dass es sich bis auf
das Triebleben, und nicht auf Willen und Vernunft allein er-
strecken kann und soll.

Und so werden wir zusammenfassend sagen: dass diese
vierte Tugend die drei andern in sich begreift, nur ihnen die
neue Beziehung auf die Gemeinschaft giebt. Sie bedeutet zu-
gleich Wahrheit, Kraft und Reinheit der Sittlichkeit im
Verhalten zur Gemeinschaft
.

Zugleich ergiebt sich, dass auch auf diese Tugend An-
wendung findet, was von den drei andern in ihrem wechsel-
seitigen Verhältnis gezeigt wurde: dass jede mit jeder andern
nicht bloss harmoniert, sondern derart eins ist, dass keine sich
ohne die andre vollenden kann, während doch der begriffliche
Unterschied fest bleibt. Das ist der platonische Satz von der
Einheit der Tugenden, der eben dies besagt, dass sie alle
in der letzten Wurzel eins und derart unter einander verbunden
sind, dass jede der andern hilft und selber ohne sie nicht sein
kann, doch aber jede von der andern dem Begriff nach ver-
schieden bleibt. Aus dem Verhältnis der drei Stufen der
Aktivität einerseits und dem unauflöslichen Zusammenhang
von Individuum und Gemeinschaft andrerseits folgt dies Ver-
hältnis der Tugenden mit zwingender Notwendigkeit; wie denn
auch Plato wesentlich dies im Sinne zu haben scheint.

In der Reihenfolge unsrer vier Tugenden aber liess sich
ein stetiger Fortgang von mehr abstrakten zu immer kon-
kreteren Gestaltungen des Sittlichen beobachten. Es gilt nun
den letzten Schritt in dieser Richtung zu thun, indem wir
von der bloss individualen zur „Tugend“ oder sittlichen
Ordnung des Soziallebens fortschreiten.

§ 16.
Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen
Lebens.

Der Begriff der individuellen Tugend, wie er bis dahin
entwickelt worden ist, erschöpft nicht den Gehalt der sittlichen
Verfassung auch nur des Individuallebens. Er reicht nicht

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[131/0147] der Gemeinschaft, das ganze menschliche Leben bis zu seiner sinnlichsten Wurzel herab durchdringen, dass es sich bis auf das Triebleben, und nicht auf Willen und Vernunft allein er- strecken kann und soll. Und so werden wir zusammenfassend sagen: dass diese vierte Tugend die drei andern in sich begreift, nur ihnen die neue Beziehung auf die Gemeinschaft giebt. Sie bedeutet zu- gleich Wahrheit, Kraft und Reinheit der Sittlichkeit im Verhalten zur Gemeinschaft. Zugleich ergiebt sich, dass auch auf diese Tugend An- wendung findet, was von den drei andern in ihrem wechsel- seitigen Verhältnis gezeigt wurde: dass jede mit jeder andern nicht bloss harmoniert, sondern derart eins ist, dass keine sich ohne die andre vollenden kann, während doch der begriffliche Unterschied fest bleibt. Das ist der platonische Satz von der Einheit der Tugenden, der eben dies besagt, dass sie alle in der letzten Wurzel eins und derart unter einander verbunden sind, dass jede der andern hilft und selber ohne sie nicht sein kann, doch aber jede von der andern dem Begriff nach ver- schieden bleibt. Aus dem Verhältnis der drei Stufen der Aktivität einerseits und dem unauflöslichen Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft andrerseits folgt dies Ver- hältnis der Tugenden mit zwingender Notwendigkeit; wie denn auch Plato wesentlich dies im Sinne zu haben scheint. In der Reihenfolge unsrer vier Tugenden aber liess sich ein stetiger Fortgang von mehr abstrakten zu immer kon- kreteren Gestaltungen des Sittlichen beobachten. Es gilt nun den letzten Schritt in dieser Richtung zu thun, indem wir von der bloss individualen zur „Tugend“ oder sittlichen Ordnung des Soziallebens fortschreiten. § 16. Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen Lebens. Der Begriff der individuellen Tugend, wie er bis dahin entwickelt worden ist, erschöpft nicht den Gehalt der sittlichen Verfassung auch nur des Individuallebens. Er reicht nicht

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/147>, abgerufen am 28.03.2024.