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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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imstande und gerade dem reifen Manne am hingebendsten zu
bieten bereit ist. Wir sind nur in der Regel bei weitem nicht
reif genug dazu. Ich möchte den Satz wagen, dass die Reife
der Bildung des Erwachsenen sich misst an dem Verständnis
der Kindheit und dem Respekt vor ihr, der in ihm lebt.

Unsere Grundvoraussetzungen haben sich bis dahin be-
währt. Was ihnen in der thatsächlichen Lage bisher nicht
entspricht, erklärt sich aus dem Charakter der gegenwärtigen
Zeit als einer überaus schwierigen Uebergangsperiode, deren
wandelbare, von heut auf morgen ungewisse Zustände für eine
Theorie, die nicht bloss heute richtig sein möchte, keine brauch-
bare Unterlage bieten. Selbst diese wirre Lage aber bestätigt
unsre Voraussetzungen in dem Sinne, dass sie verständlich
wird als ein bestimmtes Stadium des Uebergangs von dem,
was war, zu dem, was kommen muss.

§ 21.
Soziale Organisationen zur Willenserziehung:
2. Die Schule.

Im Unterschied von der unfertigen Gestalt der häuslichen
Erziehung lässt sich von der Schulerziehung sagen, dass sie
in den Grundzügen fertig dasteht. Sie bietet daher die sicherste
Grundlage einer empirischen Erprobung unserer Theorie.
Und nirgends bewährt sie sich so rein und deutlich wie eben
hier.

Wodurch ist unter allen Veranstaltungen zur Erziehung
die Schule so auffallend bevorzugt? Sichtlich dadurch, dass
sie in ausgeprägtester Weise Organisation und zwar aus-
schliesslich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist.
So entspricht es der Natur der Erziehungsstufe, deren Zentrum
in der Willensregelung als solcher liegt. Willentliche
Regelung des Thuns ist der Grundcharakter aller Organisation;
deswegen muss auf dieser Stufe die Organisation so merklich
hervortreten, und zwar in einer Form, die ausdrücklich als
solche auf den zu Erziehenden wirken will, die überhaupt
keinen anderen Zweck hat als den, zu erziehen. Daraus ver-

imstande und gerade dem reifen Manne am hingebendsten zu
bieten bereit ist. Wir sind nur in der Regel bei weitem nicht
reif genug dazu. Ich möchte den Satz wagen, dass die Reife
der Bildung des Erwachsenen sich misst an dem Verständnis
der Kindheit und dem Respekt vor ihr, der in ihm lebt.

Unsere Grundvoraussetzungen haben sich bis dahin be-
währt. Was ihnen in der thatsächlichen Lage bisher nicht
entspricht, erklärt sich aus dem Charakter der gegenwärtigen
Zeit als einer überaus schwierigen Uebergangsperiode, deren
wandelbare, von heut auf morgen ungewisse Zustände für eine
Theorie, die nicht bloss heute richtig sein möchte, keine brauch-
bare Unterlage bieten. Selbst diese wirre Lage aber bestätigt
unsre Voraussetzungen in dem Sinne, dass sie verständlich
wird als ein bestimmtes Stadium des Uebergangs von dem,
was war, zu dem, was kommen muss.

§ 21.
Soziale Organisationen zur Willenserziehung:
2. Die Schule.

Im Unterschied von der unfertigen Gestalt der häuslichen
Erziehung lässt sich von der Schulerziehung sagen, dass sie
in den Grundzügen fertig dasteht. Sie bietet daher die sicherste
Grundlage einer empirischen Erprobung unserer Theorie.
Und nirgends bewährt sie sich so rein und deutlich wie eben
hier.

Wodurch ist unter allen Veranstaltungen zur Erziehung
die Schule so auffallend bevorzugt? Sichtlich dadurch, dass
sie in ausgeprägtester Weise Organisation und zwar aus-
schliesslich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist.
So entspricht es der Natur der Erziehungsstufe, deren Zentrum
in der Willensregelung als solcher liegt. Willentliche
Regelung des Thuns ist der Grundcharakter aller Organisation;
deswegen muss auf dieser Stufe die Organisation so merklich
hervortreten, und zwar in einer Form, die ausdrücklich als
solche auf den zu Erziehenden wirken will, die überhaupt
keinen anderen Zweck hat als den, zu erziehen. Daraus ver-

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[203/0219] imstande und gerade dem reifen Manne am hingebendsten zu bieten bereit ist. Wir sind nur in der Regel bei weitem nicht reif genug dazu. Ich möchte den Satz wagen, dass die Reife der Bildung des Erwachsenen sich misst an dem Verständnis der Kindheit und dem Respekt vor ihr, der in ihm lebt. Unsere Grundvoraussetzungen haben sich bis dahin be- währt. Was ihnen in der thatsächlichen Lage bisher nicht entspricht, erklärt sich aus dem Charakter der gegenwärtigen Zeit als einer überaus schwierigen Uebergangsperiode, deren wandelbare, von heut auf morgen ungewisse Zustände für eine Theorie, die nicht bloss heute richtig sein möchte, keine brauch- bare Unterlage bieten. Selbst diese wirre Lage aber bestätigt unsre Voraussetzungen in dem Sinne, dass sie verständlich wird als ein bestimmtes Stadium des Uebergangs von dem, was war, zu dem, was kommen muss. § 21. Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 2. Die Schule. Im Unterschied von der unfertigen Gestalt der häuslichen Erziehung lässt sich von der Schulerziehung sagen, dass sie in den Grundzügen fertig dasteht. Sie bietet daher die sicherste Grundlage einer empirischen Erprobung unserer Theorie. Und nirgends bewährt sie sich so rein und deutlich wie eben hier. Wodurch ist unter allen Veranstaltungen zur Erziehung die Schule so auffallend bevorzugt? Sichtlich dadurch, dass sie in ausgeprägtester Weise Organisation und zwar aus- schliesslich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist. So entspricht es der Natur der Erziehungsstufe, deren Zentrum in der Willensregelung als solcher liegt. Willentliche Regelung des Thuns ist der Grundcharakter aller Organisation; deswegen muss auf dieser Stufe die Organisation so merklich hervortreten, und zwar in einer Form, die ausdrücklich als solche auf den zu Erziehenden wirken will, die überhaupt keinen anderen Zweck hat als den, zu erziehen. Daraus ver-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/219>, abgerufen am 29.03.2024.