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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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zu geben; sie langt nur zu für das was ist. Sie erstreckt
sich auf Natur in ihrem ganzen Umfang und auf nichts mehr;
Natur aber weiss nichts von Zwecken, von Ideen; in ihr soll
nichts sondern ist nur. Allein der Mensch setzt sich Zwecke,
z. B. als Erzieher; er stellt eine Idee dessen auf, was sein
soll, obgleich es nicht ist, ja, was sein sollte, auch wenn es
nie gewesen ist noch je sein wird. Also, was hat es überhaupt
auf sich mit dieser Zwecksetzung, diesem Sollen, dieser Idee?
Ohne klare und begründete Antwort auf diese Frage giebt es
keinen Zugang zu einer Theorie der Erziehung, die des Namens
wert ist; besonders nicht zur Theorie der Willenserziehung,
denn dasselbe ist auch der letzte Sinn der Frage: was ist
Wille? Die Theorie des Willens und die der Erziehung liegt
auf einer Bahn, der der Forschung nach der Idee. In diese
haben wir nun einzutreten.

§ 2.
Idee nicht Naturbegriff.

Sehr oft hat die Erziehungslehre der bestechenden Analogie
der geistigen mit der materiellen Entwicklung nachgegeben.
Und doch zeigt sie sich schon in schlicht empirischer Erwägung
unstichhaltig, sofern sie etwas mehr bedeuten will als ein
bequemes Gleichnis. Bei der materiellen Entwicklung nämlich
ist das zu erreichende Ziel, das gesunde, normale Wachstum
des Organismus, durchaus nicht zweifelhaft; alle Schwierigkeit
beginnt erst bei der Frage nach den Wegen, nach den zu-
sammenwirkenden Bedingungen des als normal angenommenen
Wachstums. Dagegen ist in der Erziehung nichts so sehr dem
Streit unterworfen wie das anzustrebende Ziel. Das liegt nicht
bloss an der vielfältigeren Verflechtung der die geistige Ent-
wicklung bedingenden Faktoren, sondern es weist zurück auf
einen gründlichen Unterschied der Rolle und Bedeutung der
Idee, der Zielsetzung überhaupt auf dem einen und anderen Felde.

Es ist allerdings sehr geläufig und kaum vermeidlich, auch
das Werden der Naturformen, das Wachstum der Organismen,
überhaupt alles, wovon eine Entwicklung ausgesagt wird, unter

zu geben; sie langt nur zu für das was ist. Sie erstreckt
sich auf Natur in ihrem ganzen Umfang und auf nichts mehr;
Natur aber weiss nichts von Zwecken, von Ideen; in ihr soll
nichts sondern ist nur. Allein der Mensch setzt sich Zwecke,
z. B. als Erzieher; er stellt eine Idee dessen auf, was sein
soll, obgleich es nicht ist, ja, was sein sollte, auch wenn es
nie gewesen ist noch je sein wird. Also, was hat es überhaupt
auf sich mit dieser Zwecksetzung, diesem Sollen, dieser Idee?
Ohne klare und begründete Antwort auf diese Frage giebt es
keinen Zugang zu einer Theorie der Erziehung, die des Namens
wert ist; besonders nicht zur Theorie der Willenserziehung,
denn dasselbe ist auch der letzte Sinn der Frage: was ist
Wille? Die Theorie des Willens und die der Erziehung liegt
auf einer Bahn, der der Forschung nach der Idee. In diese
haben wir nun einzutreten.

§ 2.
Idee nicht Naturbegriff.

Sehr oft hat die Erziehungslehre der bestechenden Analogie
der geistigen mit der materiellen Entwicklung nachgegeben.
Und doch zeigt sie sich schon in schlicht empirischer Erwägung
unstichhaltig, sofern sie etwas mehr bedeuten will als ein
bequemes Gleichnis. Bei der materiellen Entwicklung nämlich
ist das zu erreichende Ziel, das gesunde, normale Wachstum
des Organismus, durchaus nicht zweifelhaft; alle Schwierigkeit
beginnt erst bei der Frage nach den Wegen, nach den zu-
sammenwirkenden Bedingungen des als normal angenommenen
Wachstums. Dagegen ist in der Erziehung nichts so sehr dem
Streit unterworfen wie das anzustrebende Ziel. Das liegt nicht
bloss an der vielfältigeren Verflechtung der die geistige Ent-
wicklung bedingenden Faktoren, sondern es weist zurück auf
einen gründlichen Unterschied der Rolle und Bedeutung der
Idee, der Zielsetzung überhaupt auf dem einen und anderen Felde.

Es ist allerdings sehr geläufig und kaum vermeidlich, auch
das Werden der Naturformen, das Wachstum der Organismen,
überhaupt alles, wovon eine Entwicklung ausgesagt wird, unter

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[6/0022] zu geben; sie langt nur zu für das was ist. Sie erstreckt sich auf Natur in ihrem ganzen Umfang und auf nichts mehr; Natur aber weiss nichts von Zwecken, von Ideen; in ihr soll nichts sondern ist nur. Allein der Mensch setzt sich Zwecke, z. B. als Erzieher; er stellt eine Idee dessen auf, was sein soll, obgleich es nicht ist, ja, was sein sollte, auch wenn es nie gewesen ist noch je sein wird. Also, was hat es überhaupt auf sich mit dieser Zwecksetzung, diesem Sollen, dieser Idee? Ohne klare und begründete Antwort auf diese Frage giebt es keinen Zugang zu einer Theorie der Erziehung, die des Namens wert ist; besonders nicht zur Theorie der Willenserziehung, denn dasselbe ist auch der letzte Sinn der Frage: was ist Wille? Die Theorie des Willens und die der Erziehung liegt auf einer Bahn, der der Forschung nach der Idee. In diese haben wir nun einzutreten. § 2. Idee nicht Naturbegriff. Sehr oft hat die Erziehungslehre der bestechenden Analogie der geistigen mit der materiellen Entwicklung nachgegeben. Und doch zeigt sie sich schon in schlicht empirischer Erwägung unstichhaltig, sofern sie etwas mehr bedeuten will als ein bequemes Gleichnis. Bei der materiellen Entwicklung nämlich ist das zu erreichende Ziel, das gesunde, normale Wachstum des Organismus, durchaus nicht zweifelhaft; alle Schwierigkeit beginnt erst bei der Frage nach den Wegen, nach den zu- sammenwirkenden Bedingungen des als normal angenommenen Wachstums. Dagegen ist in der Erziehung nichts so sehr dem Streit unterworfen wie das anzustrebende Ziel. Das liegt nicht bloss an der vielfältigeren Verflechtung der die geistige Ent- wicklung bedingenden Faktoren, sondern es weist zurück auf einen gründlichen Unterschied der Rolle und Bedeutung der Idee, der Zielsetzung überhaupt auf dem einen und anderen Felde. Es ist allerdings sehr geläufig und kaum vermeidlich, auch das Werden der Naturformen, das Wachstum der Organismen, überhaupt alles, wovon eine Entwicklung ausgesagt wird, unter

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/22>, abgerufen am 29.03.2024.