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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Studierenden zur Universität, insoweit es sich auf sittliche
Besorgnisse zu stützen vorgiebt, nur lächerlich finden. Man
tanzt und spielt zusammen, und es ist meist unschuldig; sollte
man weniger unschuldig zusammen studieren? Ist man un-
schuldiger, weil sich die Sitte bis jetzt noch dagegen sträubt? --

Soviel über die Triebgrundlagen der sittlichen Erziehung;
wir kommen zu ihrem zweiten Faktor, dem der Organisation,
der seine Stätte vornehmlich in der Schulerziehung findet.

§ 27.
Zweite Stufe: Schulerziehung.

Diese Erziehungsstufe bezeichnet den entscheidendsten Fort-
schritt auf der Bahn, deren Ziel die Befreiung des Willens
von der Knechtschaft der Sinnlichkeit, vom Gesetz in den
eigenen Gliedern, die Bindung allein an das selbstgegebene
Gesetz des Willens ist. Es ist daher weniger das Stoffliche,
was die zweite Stufe von der ersten scheidet, als das Formale:
dass das Thun des Menschen mehr und mehr Willenssache wird.
Doch grenzt eben dies, wie einen neuen Kreis sittlicher Er-
wägungen, so ein eigenes Gebiet der Willenserziehung ab,
dem eine eigentümliche Organisationsform der Erziehung und
eine eigene Weise der erziehenden Thätigkeit entspricht. Am
deutlichsten prägt sich der besondere Charakter dieser Stufe
aus in dem stark hervortretenden Momente der Gegensätz-
lichkeit
, des zu überwindenden, weniger äusseren als inneren
Widerstands. Das unmittelbare Leben des Triebs wird für
die sich bewusster entfaltende Thatkraft des Willens mehr
und mehr zum blossen, zu gestaltenden Material; indem die
eigene, formende Thätigkeit in den Vordergrund des Bewusst-
seins tritt, wird der Trieb mehr als Hemmnis empfunden, ob-
wohl der Wille sich seiner positiven Kräfte zu bedienen doch
gar nicht umhin kann. Daher gehört zur Grundstimmung der
jugendlichen Entwicklung auf dieser Stufe etwas von Trotz
auch gegen den eigenen Trieb, dessen unbeherrschte Gewalt
von dem sich freier entfaltenden, zur Selbstthätigkeit drängenden
Willen als Fessel empfunden wird. Das ist das eigentliche Metall

Studierenden zur Universität, insoweit es sich auf sittliche
Besorgnisse zu stützen vorgiebt, nur lächerlich finden. Man
tanzt und spielt zusammen, und es ist meist unschuldig; sollte
man weniger unschuldig zusammen studieren? Ist man un-
schuldiger, weil sich die Sitte bis jetzt noch dagegen sträubt? —

Soviel über die Triebgrundlagen der sittlichen Erziehung;
wir kommen zu ihrem zweiten Faktor, dem der Organisation,
der seine Stätte vornehmlich in der Schulerziehung findet.

§ 27.
Zweite Stufe: Schulerziehung.

Diese Erziehungsstufe bezeichnet den entscheidendsten Fort-
schritt auf der Bahn, deren Ziel die Befreiung des Willens
von der Knechtschaft der Sinnlichkeit, vom Gesetz in den
eigenen Gliedern, die Bindung allein an das selbstgegebene
Gesetz des Willens ist. Es ist daher weniger das Stoffliche,
was die zweite Stufe von der ersten scheidet, als das Formale:
dass das Thun des Menschen mehr und mehr Willenssache wird.
Doch grenzt eben dies, wie einen neuen Kreis sittlicher Er-
wägungen, so ein eigenes Gebiet der Willenserziehung ab,
dem eine eigentümliche Organisationsform der Erziehung und
eine eigene Weise der erziehenden Thätigkeit entspricht. Am
deutlichsten prägt sich der besondere Charakter dieser Stufe
aus in dem stark hervortretenden Momente der Gegensätz-
lichkeit
, des zu überwindenden, weniger äusseren als inneren
Widerstands. Das unmittelbare Leben des Triebs wird für
die sich bewusster entfaltende Thatkraft des Willens mehr
und mehr zum blossen, zu gestaltenden Material; indem die
eigene, formende Thätigkeit in den Vordergrund des Bewusst-
seins tritt, wird der Trieb mehr als Hemmnis empfunden, ob-
wohl der Wille sich seiner positiven Kräfte zu bedienen doch
gar nicht umhin kann. Daher gehört zur Grundstimmung der
jugendlichen Entwicklung auf dieser Stufe etwas von Trotz
auch gegen den eigenen Trieb, dessen unbeherrschte Gewalt
von dem sich freier entfaltenden, zur Selbstthätigkeit drängenden
Willen als Fessel empfunden wird. Das ist das eigentliche Metall

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[254/0270] Studierenden zur Universität, insoweit es sich auf sittliche Besorgnisse zu stützen vorgiebt, nur lächerlich finden. Man tanzt und spielt zusammen, und es ist meist unschuldig; sollte man weniger unschuldig zusammen studieren? Ist man un- schuldiger, weil sich die Sitte bis jetzt noch dagegen sträubt? — Soviel über die Triebgrundlagen der sittlichen Erziehung; wir kommen zu ihrem zweiten Faktor, dem der Organisation, der seine Stätte vornehmlich in der Schulerziehung findet. § 27. Zweite Stufe: Schulerziehung. Diese Erziehungsstufe bezeichnet den entscheidendsten Fort- schritt auf der Bahn, deren Ziel die Befreiung des Willens von der Knechtschaft der Sinnlichkeit, vom Gesetz in den eigenen Gliedern, die Bindung allein an das selbstgegebene Gesetz des Willens ist. Es ist daher weniger das Stoffliche, was die zweite Stufe von der ersten scheidet, als das Formale: dass das Thun des Menschen mehr und mehr Willenssache wird. Doch grenzt eben dies, wie einen neuen Kreis sittlicher Er- wägungen, so ein eigenes Gebiet der Willenserziehung ab, dem eine eigentümliche Organisationsform der Erziehung und eine eigene Weise der erziehenden Thätigkeit entspricht. Am deutlichsten prägt sich der besondere Charakter dieser Stufe aus in dem stark hervortretenden Momente der Gegensätz- lichkeit, des zu überwindenden, weniger äusseren als inneren Widerstands. Das unmittelbare Leben des Triebs wird für die sich bewusster entfaltende Thatkraft des Willens mehr und mehr zum blossen, zu gestaltenden Material; indem die eigene, formende Thätigkeit in den Vordergrund des Bewusst- seins tritt, wird der Trieb mehr als Hemmnis empfunden, ob- wohl der Wille sich seiner positiven Kräfte zu bedienen doch gar nicht umhin kann. Daher gehört zur Grundstimmung der jugendlichen Entwicklung auf dieser Stufe etwas von Trotz auch gegen den eigenen Trieb, dessen unbeherrschte Gewalt von dem sich freier entfaltenden, zur Selbstthätigkeit drängenden Willen als Fessel empfunden wird. Das ist das eigentliche Metall

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/270>, abgerufen am 19.04.2024.