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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Schriftsteller des Altertums vorführen, sind dem Sinn des
heranwachsenden Knaben durchaus homogen, sie müssen ihn
packen, wenn sie nur in der rechten Weise ihm vorgestellt
werden und nicht etwa die sonstige Erziehung das natürlich
sich entwickelnde Verständnis dafür künstlich erstickt. Es ist
oft und richtig bemerkt worden, dass die Geschichtschreibung
der Alten schlichtere, durchsichtigere Verhältnisse zeigt als
jedes moderne oder gar mittelalterliche Gemeinwesen, da sie,
ohne des grösseren, nationalen Ausblicks zu entbehren, sich
doch zunächst im Rahmen der natürlichen, d. h. der Stadt-
gemeinde hält.

Es bedarf nur des einfachen Hinweises, wie alles auf dieser
Stufe Gewonnene auch in der ganzen weiteren Entwicklung
erhalten bleibt; wie auch damit ein Grund gelegt ist, der nicht
wieder verlassen wird. Man lernt nach dem alten Spruch nicht
für die Schule, sondern fürs Leben, und das Leben bleibt,
ganz im gleichen Sinne, immerfort eine Schule, wiewohl nicht
nur das. Damit aber, dass dieser grössere Sinn der Schule
aufgeht, wird bereits die Schwelle zur dritten Erziehungsstufe
überschritten, auf der das Leben selbst der Erzieher wird,
Haus und Schule nur noch als mitwirkende, in der That sekun-
däre Faktoren in Betracht kommen.

§ 28.
Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung.

Was bedeutet eigentlich der Schritt von der Schule zum
Leben? Denn als das eigentliche Leben, für das das Haus und
die Schule erziehe, betrachtet man ja erst das Leben jenseits
beider. Was ist die erziehende Kraft dieses Lebens, was unter-
scheidet sie von den erziehenden Kräften des Hauses und der
Schule, die doch auch zugleich ein Leben sind? Ein erhöhtes
Ziel der Bildung muss es sein, das über die enge Organisations-
weise der Haus- und Schulerziehung hinaustreibt; eine neue
Welt thut sich auf, neue grössere Formen der Gemeinschaft. Nur
scheint die Erweiterung ein Schritt ins Unendliche und damit ziel-
los zu sein. Denn gerade das Bewusstsein der Unendlichkeit

Schriftsteller des Altertums vorführen, sind dem Sinn des
heranwachsenden Knaben durchaus homogen, sie müssen ihn
packen, wenn sie nur in der rechten Weise ihm vorgestellt
werden und nicht etwa die sonstige Erziehung das natürlich
sich entwickelnde Verständnis dafür künstlich erstickt. Es ist
oft und richtig bemerkt worden, dass die Geschichtschreibung
der Alten schlichtere, durchsichtigere Verhältnisse zeigt als
jedes moderne oder gar mittelalterliche Gemeinwesen, da sie,
ohne des grösseren, nationalen Ausblicks zu entbehren, sich
doch zunächst im Rahmen der natürlichen, d. h. der Stadt-
gemeinde hält.

Es bedarf nur des einfachen Hinweises, wie alles auf dieser
Stufe Gewonnene auch in der ganzen weiteren Entwicklung
erhalten bleibt; wie auch damit ein Grund gelegt ist, der nicht
wieder verlassen wird. Man lernt nach dem alten Spruch nicht
für die Schule, sondern fürs Leben, und das Leben bleibt,
ganz im gleichen Sinne, immerfort eine Schule, wiewohl nicht
nur das. Damit aber, dass dieser grössere Sinn der Schule
aufgeht, wird bereits die Schwelle zur dritten Erziehungsstufe
überschritten, auf der das Leben selbst der Erzieher wird,
Haus und Schule nur noch als mitwirkende, in der That sekun-
däre Faktoren in Betracht kommen.

§ 28.
Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung.

Was bedeutet eigentlich der Schritt von der Schule zum
Leben? Denn als das eigentliche Leben, für das das Haus und
die Schule erziehe, betrachtet man ja erst das Leben jenseits
beider. Was ist die erziehende Kraft dieses Lebens, was unter-
scheidet sie von den erziehenden Kräften des Hauses und der
Schule, die doch auch zugleich ein Leben sind? Ein erhöhtes
Ziel der Bildung muss es sein, das über die enge Organisations-
weise der Haus- und Schulerziehung hinaustreibt; eine neue
Welt thut sich auf, neue grössere Formen der Gemeinschaft. Nur
scheint die Erweiterung ein Schritt ins Unendliche und damit ziel-
los zu sein. Denn gerade das Bewusstsein der Unendlichkeit

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[259/0275] Schriftsteller des Altertums vorführen, sind dem Sinn des heranwachsenden Knaben durchaus homogen, sie müssen ihn packen, wenn sie nur in der rechten Weise ihm vorgestellt werden und nicht etwa die sonstige Erziehung das natürlich sich entwickelnde Verständnis dafür künstlich erstickt. Es ist oft und richtig bemerkt worden, dass die Geschichtschreibung der Alten schlichtere, durchsichtigere Verhältnisse zeigt als jedes moderne oder gar mittelalterliche Gemeinwesen, da sie, ohne des grösseren, nationalen Ausblicks zu entbehren, sich doch zunächst im Rahmen der natürlichen, d. h. der Stadt- gemeinde hält. Es bedarf nur des einfachen Hinweises, wie alles auf dieser Stufe Gewonnene auch in der ganzen weiteren Entwicklung erhalten bleibt; wie auch damit ein Grund gelegt ist, der nicht wieder verlassen wird. Man lernt nach dem alten Spruch nicht für die Schule, sondern fürs Leben, und das Leben bleibt, ganz im gleichen Sinne, immerfort eine Schule, wiewohl nicht nur das. Damit aber, dass dieser grössere Sinn der Schule aufgeht, wird bereits die Schwelle zur dritten Erziehungsstufe überschritten, auf der das Leben selbst der Erzieher wird, Haus und Schule nur noch als mitwirkende, in der That sekun- däre Faktoren in Betracht kommen. § 28. Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung. Was bedeutet eigentlich der Schritt von der Schule zum Leben? Denn als das eigentliche Leben, für das das Haus und die Schule erziehe, betrachtet man ja erst das Leben jenseits beider. Was ist die erziehende Kraft dieses Lebens, was unter- scheidet sie von den erziehenden Kräften des Hauses und der Schule, die doch auch zugleich ein Leben sind? Ein erhöhtes Ziel der Bildung muss es sein, das über die enge Organisations- weise der Haus- und Schulerziehung hinaustreibt; eine neue Welt thut sich auf, neue grössere Formen der Gemeinschaft. Nur scheint die Erweiterung ein Schritt ins Unendliche und damit ziel- los zu sein. Denn gerade das Bewusstsein der Unendlichkeit

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/275>, abgerufen am 29.03.2024.