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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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tritt erst die Eigentümlichkeit der praktischen Objektsetzung
unvermischt zu Tage. Sie muss also, als letzte und höchste
Stufe der Aktivität, von der des blossen Willens unter-
schieden werden. Wir zeichnen sie aus durch die nähere
Bestimmung des Willens zum reinen oder Vernunftwillen.

§ 9.
Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille.

Schon der Name, den wir der dritten Stufe der Aktivität
geben, will andeuten, dass diese die zweite, den Willen, eben-
so in sich schliesst, wie der Wille den Trieb. Das Verhältnis
der drei Stufen ist dieses: Trieb bezeichnet nur das Vorhanden-
sein einer Tendenz überhaupt, d. h. Richtung der Aktivität
auf irgend ein Ziel, ohne Bewusstsein einer streng festzuhalten-
den, jede Ausweichung verbietenden Einheit der Richtung; auf
der Stufe des Willens tritt dies Bewusstsein hinzu, es fehlt
aber noch die Einsicht, dass, wie wir früher sagten, jede Rich-
tung ins Unendliche weist, es fehlt die Messung des einzelnen,
empirischen Wollens an dem nicht mehr empirischen Ziel des
unbedingt Seinsollenden; die dritte Stufe fügt noch dies hinzu;
die Beziehung aufs empirische Objekt bleibt zwar, aber das
Bewusstsein des Wollenden haftet nicht mehr an diesem, son-
dern erhebt sich darüber zum schlechthin übergeordneten Stand-
punkt des unbedingt Gesetzlichen. Das empirische Objekt wird
mit ausdrücklichem Bewusstsein nur bedingt gewollt, d. h. um
eines ferneren und ferneren Zweckes willen, der, solange er
noch im Bereiche der Erfahrung liegt, wieder nur bedingt gewollt,
zuletzt aber aufs Unbedingte, als das wahre, obgleich unend-
lich ferne Ziel bezogen wird. Praktische Vernunft ist also
an sich nicht empirisch, wohl aber findet sie Anwendung aufs
empirische Wollen, und hat abgesehen von dieser Anwendung
keine Bedeutung, ausser als Abstraktion zum Behufe der
blossen Theorie. Es ist der Gewinn unsrer vorausgeschickten
Betrachtungen, dass diese Anwendung, in der man so grosse
Schwierigkeiten gesucht hat, jetzt kaum mehr einer besonde-
ren Erklärung bedarf.


tritt erst die Eigentümlichkeit der praktischen Objektsetzung
unvermischt zu Tage. Sie muss also, als letzte und höchste
Stufe der Aktivität, von der des blossen Willens unter-
schieden werden. Wir zeichnen sie aus durch die nähere
Bestimmung des Willens zum reinen oder Vernunftwillen.

§ 9.
Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille.

Schon der Name, den wir der dritten Stufe der Aktivität
geben, will andeuten, dass diese die zweite, den Willen, eben-
so in sich schliesst, wie der Wille den Trieb. Das Verhältnis
der drei Stufen ist dieses: Trieb bezeichnet nur das Vorhanden-
sein einer Tendenz überhaupt, d. h. Richtung der Aktivität
auf irgend ein Ziel, ohne Bewusstsein einer streng festzuhalten-
den, jede Ausweichung verbietenden Einheit der Richtung; auf
der Stufe des Willens tritt dies Bewusstsein hinzu, es fehlt
aber noch die Einsicht, dass, wie wir früher sagten, jede Rich-
tung ins Unendliche weist, es fehlt die Messung des einzelnen,
empirischen Wollens an dem nicht mehr empirischen Ziel des
unbedingt Seinsollenden; die dritte Stufe fügt noch dies hinzu;
die Beziehung aufs empirische Objekt bleibt zwar, aber das
Bewusstsein des Wollenden haftet nicht mehr an diesem, son-
dern erhebt sich darüber zum schlechthin übergeordneten Stand-
punkt des unbedingt Gesetzlichen. Das empirische Objekt wird
mit ausdrücklichem Bewusstsein nur bedingt gewollt, d. h. um
eines ferneren und ferneren Zweckes willen, der, solange er
noch im Bereiche der Erfahrung liegt, wieder nur bedingt gewollt,
zuletzt aber aufs Unbedingte, als das wahre, obgleich unend-
lich ferne Ziel bezogen wird. Praktische Vernunft ist also
an sich nicht empirisch, wohl aber findet sie Anwendung aufs
empirische Wollen, und hat abgesehen von dieser Anwendung
keine Bedeutung, ausser als Abstraktion zum Behufe der
blossen Theorie. Es ist der Gewinn unsrer vorausgeschickten
Betrachtungen, dass diese Anwendung, in der man so grosse
Schwierigkeiten gesucht hat, jetzt kaum mehr einer besonde-
ren Erklärung bedarf.


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[63/0079] tritt erst die Eigentümlichkeit der praktischen Objektsetzung unvermischt zu Tage. Sie muss also, als letzte und höchste Stufe der Aktivität, von der des blossen Willens unter- schieden werden. Wir zeichnen sie aus durch die nähere Bestimmung des Willens zum reinen oder Vernunftwillen. § 9. Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille. Schon der Name, den wir der dritten Stufe der Aktivität geben, will andeuten, dass diese die zweite, den Willen, eben- so in sich schliesst, wie der Wille den Trieb. Das Verhältnis der drei Stufen ist dieses: Trieb bezeichnet nur das Vorhanden- sein einer Tendenz überhaupt, d. h. Richtung der Aktivität auf irgend ein Ziel, ohne Bewusstsein einer streng festzuhalten- den, jede Ausweichung verbietenden Einheit der Richtung; auf der Stufe des Willens tritt dies Bewusstsein hinzu, es fehlt aber noch die Einsicht, dass, wie wir früher sagten, jede Rich- tung ins Unendliche weist, es fehlt die Messung des einzelnen, empirischen Wollens an dem nicht mehr empirischen Ziel des unbedingt Seinsollenden; die dritte Stufe fügt noch dies hinzu; die Beziehung aufs empirische Objekt bleibt zwar, aber das Bewusstsein des Wollenden haftet nicht mehr an diesem, son- dern erhebt sich darüber zum schlechthin übergeordneten Stand- punkt des unbedingt Gesetzlichen. Das empirische Objekt wird mit ausdrücklichem Bewusstsein nur bedingt gewollt, d. h. um eines ferneren und ferneren Zweckes willen, der, solange er noch im Bereiche der Erfahrung liegt, wieder nur bedingt gewollt, zuletzt aber aufs Unbedingte, als das wahre, obgleich unend- lich ferne Ziel bezogen wird. Praktische Vernunft ist also an sich nicht empirisch, wohl aber findet sie Anwendung aufs empirische Wollen, und hat abgesehen von dieser Anwendung keine Bedeutung, ausser als Abstraktion zum Behufe der blossen Theorie. Es ist der Gewinn unsrer vorausgeschickten Betrachtungen, dass diese Anwendung, in der man so grosse Schwierigkeiten gesucht hat, jetzt kaum mehr einer besonde- ren Erklärung bedarf.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/79>, abgerufen am 16.04.2024.