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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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griffen seiner Ethik oft sehr bedeutsam hervortritt.*) Es ist
aber auch in unserer Sprache ganz zulässig zu sagen, ein
Mensch sei wahr, d. h. er habe den Sinn und Willen der
Wahrheit. Der gebräuchlichste Ausdruck bei den Alten ist
jedoch phronesis, eigentlich das Beisinnensein, die Besinnung oder
Besinnlichkeit, d. i. Sinn und Wille, sich vor jeder Willens-
entscheidung auf das Rechte zu besinnen. Der Satz des
Sokrates**), dass für den Menschen alles Andere von der "Seele",
d. h. vom Bewusstsein abhänge, alles Seelische aber von Be-
sinnung oder praktischer Einsicht (phronesis), wofern es zum
Guten ausschlagen solle, ist zum Kernsatz der griechischen
Ethik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was man
ihr verdankt. Das war es, was an Sokrates so imponierte:
die sichere Herrschaft des Bewusstseins, die nach nichts fragt
als nach der Wahrheit des Thuns, nach der Einstimmigkeit
des Wollens mit sich selbst und seinem eigenen inneren Gesetz.
Was Plato dieser sokratischen Grundbestimmung der Sittlich-
keit als "Erkenntnis" hinzugefügt hat, ist die vollendet
deutliche Entwicklung des Begriffs des praktischen Gesetzes
zur "Idee" des Unbedingten, nämlich des unbedingt Ge-
setzlichen***). Auch dies übrigens war bereits in Sokrates an-
gelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleichsetzte, aber
zugleich behauptete, dies Wissen stehe nicht dem Menschen
zu, dessen Weisheit vielmehr darauf beschränkt sei, zu wissen,
dass er nicht weiss.

Der Ausdruck Wahrheit hat den Vorzug, dass er dies
alles einschliessen kann, und dabei gerade das Inhaltliche,
dessen man sich besinnen soll, das Gesetz der Wahrheit, an

*) Z. B. Apol. 29: phroneseos kai aletheias kai tes psukhes opos
os beltiste estai . . . . Protag. 356: delosasa de to alethes esukhian
an epoiesen ekhein ten psukhen menousan epi to alethei kai esosen an
ton bion. Phileb. 58: ei tis pephuke tes psukhes emon dunamis eran te
tou alethous kai panta eneka toutou prattein. An allen drei Stellen
beachte man die Entsprechung zwischen den Begriffen aletheia und psukhe
(Bewusstsein).
**) Plat. Men. 88, mit zahlreichen Parallelstellen.
***) Ueber diesen Sinn der "Idee des Guten" vgl. "Platos Staat und die
Idee der Sozialpädagogik".

griffen seiner Ethik oft sehr bedeutsam hervortritt.*) Es ist
aber auch in unserer Sprache ganz zulässig zu sagen, ein
Mensch sei wahr, d. h. er habe den Sinn und Willen der
Wahrheit. Der gebräuchlichste Ausdruck bei den Alten ist
jedoch φϱόνησις, eigentlich das Beisinnensein, die Besinnung oder
Besinnlichkeit, d. i. Sinn und Wille, sich vor jeder Willens-
entscheidung auf das Rechte zu besinnen. Der Satz des
Sokrates**), dass für den Menschen alles Andere von der „Seele“,
d. h. vom Bewusstsein abhänge, alles Seelische aber von Be-
sinnung oder praktischer Einsicht (φϱόνησις), wofern es zum
Guten ausschlagen solle, ist zum Kernsatz der griechischen
Ethik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was man
ihr verdankt. Das war es, was an Sokrates so imponierte:
die sichere Herrschaft des Bewusstseins, die nach nichts fragt
als nach der Wahrheit des Thuns, nach der Einstimmigkeit
des Wollens mit sich selbst und seinem eigenen inneren Gesetz.
Was Plato dieser sokratischen Grundbestimmung der Sittlich-
keit als „Erkenntnis“ hinzugefügt hat, ist die vollendet
deutliche Entwicklung des Begriffs des praktischen Gesetzes
zur „Idee“ des Unbedingten, nämlich des unbedingt Ge-
setzlichen***). Auch dies übrigens war bereits in Sokrates an-
gelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleichsetzte, aber
zugleich behauptete, dies Wissen stehe nicht dem Menschen
zu, dessen Weisheit vielmehr darauf beschränkt sei, zu wissen,
dass er nicht weiss.

Der Ausdruck Wahrheit hat den Vorzug, dass er dies
alles einschliessen kann, und dabei gerade das Inhaltliche,
dessen man sich besinnen soll, das Gesetz der Wahrheit, an

*) Z. B. Apol. 29: φϱονήσεως καὶ ἀληϑείας καὶ τῆς ψυχῆς ὅπως
ὡς βελτίστη ἔσται . . . . Protag. 356: δηλώσασα δὲ τὸ ἀληϑὲς ἡσυχίαν
ἄν ὲποίησεν ἔχειν τὴν ψυχὴν μένουσαν ἐπὶ τῷ ἀληϑεῖ καὶ ἔσωσεν ἄν
τὸν βίον. Phileb. 58: εἳ τις πέφυκε τῆς ψυχῆς ἡμῶν δύναμις ἐϱᾶν τε
τοῦ ἀληϑοῦς καὶ πάντα ἕνεκα τούτου πϱάττειν. An allen drei Stellen
beachte man die Entsprechung zwischen den Begriffen ἀλήϑεια und ψυχή
(Bewusstsein).
**) Plat. Men. 88, mit zahlreichen Parallelstellen.
***) Ueber diesen Sinn der „Idee des Guten“ vgl. „Platos Staat und die
Idee der Sozialpädagogik“.
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[92/0108] griffen seiner Ethik oft sehr bedeutsam hervortritt. *) Es ist aber auch in unserer Sprache ganz zulässig zu sagen, ein Mensch sei wahr, d. h. er habe den Sinn und Willen der Wahrheit. Der gebräuchlichste Ausdruck bei den Alten ist jedoch φϱόνησις, eigentlich das Beisinnensein, die Besinnung oder Besinnlichkeit, d. i. Sinn und Wille, sich vor jeder Willens- entscheidung auf das Rechte zu besinnen. Der Satz des Sokrates **), dass für den Menschen alles Andere von der „Seele“, d. h. vom Bewusstsein abhänge, alles Seelische aber von Be- sinnung oder praktischer Einsicht (φϱόνησις), wofern es zum Guten ausschlagen solle, ist zum Kernsatz der griechischen Ethik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was man ihr verdankt. Das war es, was an Sokrates so imponierte: die sichere Herrschaft des Bewusstseins, die nach nichts fragt als nach der Wahrheit des Thuns, nach der Einstimmigkeit des Wollens mit sich selbst und seinem eigenen inneren Gesetz. Was Plato dieser sokratischen Grundbestimmung der Sittlich- keit als „Erkenntnis“ hinzugefügt hat, ist die vollendet deutliche Entwicklung des Begriffs des praktischen Gesetzes zur „Idee“ des Unbedingten, nämlich des unbedingt Ge- setzlichen ***). Auch dies übrigens war bereits in Sokrates an- gelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleichsetzte, aber zugleich behauptete, dies Wissen stehe nicht dem Menschen zu, dessen Weisheit vielmehr darauf beschränkt sei, zu wissen, dass er nicht weiss. Der Ausdruck Wahrheit hat den Vorzug, dass er dies alles einschliessen kann, und dabei gerade das Inhaltliche, dessen man sich besinnen soll, das Gesetz der Wahrheit, an *) Z. B. Apol. 29: φϱονήσεως καὶ ἀληϑείας καὶ τῆς ψυχῆς ὅπως ὡς βελτίστη ἔσται . . . . Protag. 356: δηλώσασα δὲ τὸ ἀληϑὲς ἡσυχίαν ἄν ὲποίησεν ἔχειν τὴν ψυχὴν μένουσαν ἐπὶ τῷ ἀληϑεῖ καὶ ἔσωσεν ἄν τὸν βίον. Phileb. 58: εἳ τις πέφυκε τῆς ψυχῆς ἡμῶν δύναμις ἐϱᾶν τε τοῦ ἀληϑοῦς καὶ πάντα ἕνεκα τούτου πϱάττειν. An allen drei Stellen beachte man die Entsprechung zwischen den Begriffen ἀλήϑεια und ψυχή (Bewusstsein). **) Plat. Men. 88, mit zahlreichen Parallelstellen. ***) Ueber diesen Sinn der „Idee des Guten“ vgl. „Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik“.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/108>, abgerufen am 28.03.2024.