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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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für die Gemeinschaft wie für das Individuum jenes Grund-
gesetz die Bedeutung eines Entwicklungsgesetzes annehmen
muss; es lässt sich, auch für die Gemeinschaft, geradezu als
pädagogisches Gesetz aussprechen, als das Gesetz jener
Selbsterziehung, in der das Kind "Mensch" zur Reife eines
Vernunftwesens allmählich emporsteigen soll.

Bei diesem pädagogischen und zwar sozialpädagogischen
Ideal aber wird unsre Betrachtung nun auch Halt machen
müssen. Darüber hinaus bliebe nur eins noch möglich: die
Entdeckungsfahrt nach einem höchst moralischen "Utopien".
Allein wir stimmen dem "wissenschaftlichen Sozialismus" auch
darin bei, dass der Erdichtung sozialer Schlaraffenländer, über
die dichterische Fassung hinaus, ein eigener, methodischer
Wert nicht innewohnt. Die berauschende Vorstellung eines
Endzustands der Menschheit, in dem alle Probleme glatt gelöst,
also auch gar keine zu lösende Aufgabe mehr einem mensch-
lichen Streben übrig gelassen wäre, steht auf einer Stufe mit
den metaphysischen Träumen einer kindlichen Stufe der Wissen-
schaft, die sich mit endgültigen Lösungen aller Rätselfragen
des theoretischen Verstandes schmeicheln konnten. Eine zur
Reife kritischer Besinnung gediehene Forschung weiss, dass der
Arbeit der Menschheit Vollendung nie beschieden ist; sie begnügt
sich, mit Lessing, an der tieferen, unerschöpflicheren Freude des
ewigen Fortschritts. Der Weise nach menschlichem Zu-
schnitt ist, wie bereits Sokrates einsah, nicht der Wissende,
sondern wer, sein notwendiges Nichtwissen wissend, um besseres
und besseres Wissen methodisch bemüht ist. Nicht anders
steht es mit dem praktischen Ideal, sei es für den Einzelnen
oder für die Gemeinschaft. Eine um möglichste Näherung zur
systematischen Einheit ihrer Zwecke methodisch
bemühte menschliche Gemeinschaft: ein darüber hinausgehendes
Ideal mag sich ausdenken, wer nach etwas Anderem als den
Bedingungen eines menschlich-irdischen Soziallebens fragt.

Dass darin aber auch die den individuellen Tugenden
entsprechenden Grundeigenschaften eines sittlich geordneten
Gemeinlebens eingeschlossen sind, dafür lässt sich der Beweis,
wie ich denke, überzeugender führen, als ihn Plato für seinen

Natorp, Sozialpädagogik. 12

für die Gemeinschaft wie für das Individuum jenes Grund-
gesetz die Bedeutung eines Entwicklungsgesetzes annehmen
muss; es lässt sich, auch für die Gemeinschaft, geradezu als
pädagogisches Gesetz aussprechen, als das Gesetz jener
Selbsterziehung, in der das Kind „Mensch“ zur Reife eines
Vernunftwesens allmählich emporsteigen soll.

Bei diesem pädagogischen und zwar sozialpädagogischen
Ideal aber wird unsre Betrachtung nun auch Halt machen
müssen. Darüber hinaus bliebe nur eins noch möglich: die
Entdeckungsfahrt nach einem höchst moralischen „Utopien“.
Allein wir stimmen dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ auch
darin bei, dass der Erdichtung sozialer Schlaraffenländer, über
die dichterische Fassung hinaus, ein eigener, methodischer
Wert nicht innewohnt. Die berauschende Vorstellung eines
Endzustands der Menschheit, in dem alle Probleme glatt gelöst,
also auch gar keine zu lösende Aufgabe mehr einem mensch-
lichen Streben übrig gelassen wäre, steht auf einer Stufe mit
den metaphysischen Träumen einer kindlichen Stufe der Wissen-
schaft, die sich mit endgültigen Lösungen aller Rätselfragen
des theoretischen Verstandes schmeicheln konnten. Eine zur
Reife kritischer Besinnung gediehene Forschung weiss, dass der
Arbeit der Menschheit Vollendung nie beschieden ist; sie begnügt
sich, mit Lessing, an der tieferen, unerschöpflicheren Freude des
ewigen Fortschritts. Der Weise nach menschlichem Zu-
schnitt ist, wie bereits Sokrates einsah, nicht der Wissende,
sondern wer, sein notwendiges Nichtwissen wissend, um besseres
und besseres Wissen methodisch bemüht ist. Nicht anders
steht es mit dem praktischen Ideal, sei es für den Einzelnen
oder für die Gemeinschaft. Eine um möglichste Näherung zur
systematischen Einheit ihrer Zwecke methodisch
bemühte menschliche Gemeinschaft: ein darüber hinausgehendes
Ideal mag sich ausdenken, wer nach etwas Anderem als den
Bedingungen eines menschlich-irdischen Soziallebens fragt.

Dass darin aber auch die den individuellen Tugenden
entsprechenden Grundeigenschaften eines sittlich geordneten
Gemeinlebens eingeschlossen sind, dafür lässt sich der Beweis,
wie ich denke, überzeugender führen, als ihn Plato für seinen

Natorp, Sozialpädagogik. 12
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[177/0193] für die Gemeinschaft wie für das Individuum jenes Grund- gesetz die Bedeutung eines Entwicklungsgesetzes annehmen muss; es lässt sich, auch für die Gemeinschaft, geradezu als pädagogisches Gesetz aussprechen, als das Gesetz jener Selbsterziehung, in der das Kind „Mensch“ zur Reife eines Vernunftwesens allmählich emporsteigen soll. Bei diesem pädagogischen und zwar sozialpädagogischen Ideal aber wird unsre Betrachtung nun auch Halt machen müssen. Darüber hinaus bliebe nur eins noch möglich: die Entdeckungsfahrt nach einem höchst moralischen „Utopien“. Allein wir stimmen dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ auch darin bei, dass der Erdichtung sozialer Schlaraffenländer, über die dichterische Fassung hinaus, ein eigener, methodischer Wert nicht innewohnt. Die berauschende Vorstellung eines Endzustands der Menschheit, in dem alle Probleme glatt gelöst, also auch gar keine zu lösende Aufgabe mehr einem mensch- lichen Streben übrig gelassen wäre, steht auf einer Stufe mit den metaphysischen Träumen einer kindlichen Stufe der Wissen- schaft, die sich mit endgültigen Lösungen aller Rätselfragen des theoretischen Verstandes schmeicheln konnten. Eine zur Reife kritischer Besinnung gediehene Forschung weiss, dass der Arbeit der Menschheit Vollendung nie beschieden ist; sie begnügt sich, mit Lessing, an der tieferen, unerschöpflicheren Freude des ewigen Fortschritts. Der Weise nach menschlichem Zu- schnitt ist, wie bereits Sokrates einsah, nicht der Wissende, sondern wer, sein notwendiges Nichtwissen wissend, um besseres und besseres Wissen methodisch bemüht ist. Nicht anders steht es mit dem praktischen Ideal, sei es für den Einzelnen oder für die Gemeinschaft. Eine um möglichste Näherung zur systematischen Einheit ihrer Zwecke methodisch bemühte menschliche Gemeinschaft: ein darüber hinausgehendes Ideal mag sich ausdenken, wer nach etwas Anderem als den Bedingungen eines menschlich-irdischen Soziallebens fragt. Dass darin aber auch die den individuellen Tugenden entsprechenden Grundeigenschaften eines sittlich geordneten Gemeinlebens eingeschlossen sind, dafür lässt sich der Beweis, wie ich denke, überzeugender führen, als ihn Plato für seinen Natorp, Sozialpädagogik. 12

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/193>, abgerufen am 16.04.2024.