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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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wohl Antrieb und Möglichkeit zu bewusster Regelung des
Handelns, selbst zur einheitlichen Regelung gemäss der Idee
der Vernunft, schon auf der Stufe des Triebs vorausgesetzt
werden; wie für das Individuum im Kindesalter, so für die
Völker und die Menschheit in deren Kindheitsstadium. Sonst
würde das Kind auch dem Einfluss von Willen und Vernunft
des Erziehers nicht zugänglich sein, vollends ein Volk kind-
licher Menschen sich niemals durch eigene Kraft zu den höheren
Stufen emporzuarbeiten vermocht haben. Aber doch giebt es
eine Stufe, wo wenigstens ein Bewusstsein der Willensregel
noch nicht oder kaum vorhanden ist; und dann ist es nochmals
eine schwere Errungenschaft, dass auch die bewusste Richtung
auf durchgängige Einheit der Regelung sich bilde, die wir
Vernunft nennen. Mögen also auch jene drei Bestandteile der
menschlichen Aktivität so innig zusammengehören, dass die
Erziehung des Willens auf jeder Stufe alle drei zu berück-
sichtigen haben wird, so wird sie es doch auf einer ersten
Stufe vornehmlich mit der einer gesunden Willensentwicklung
zuträglichsten Gestaltung des Trieblebens, und nur hülfsweise
mit den Anfängen eigentlicher Willensleistung und den ersten
schwachen Regungen sittlicher Vernunft, auf einer zweiten
vorzugsweise mit dem Formalen der Willensregelung zu thun
haben, und erst auf der dritten zur Ausbildung des sittlichen
Bewusstseins in seiner ganzen Tiefe und Weite sich erheben
können.

Wie aber demnach die Art der willenbildenden Thätigkeit
sich dreifach gliedert, so muss auch die Organisation dieser
Thätigkeit für dieselben drei Stufen entsprechend verschieden
sein. Und diese Stufenfolge der Organisationen zur Erziehung
der Einzelnen muss in gewisser Beziehung stehen zu dem Unter-
schied in der Art und Organisation der entsprechenden sozialen
Thätigkeiten: der wirtschaftlichen, der regierenden und der
bildenden; nämlich diese drei werden, je in ihrer Eigenart und
gemäss ihrem wechselseitigen Verhältnis, daher auch in ent-
sprechender Folge, zur Erziehung des Willens im Individuum
derart mithelfen müssen, dass die Entfaltung der Arbeitstriebe
im Individuum von Anfang an Zusammenhang sucht und findet

wohl Antrieb und Möglichkeit zu bewusster Regelung des
Handelns, selbst zur einheitlichen Regelung gemäss der Idee
der Vernunft, schon auf der Stufe des Triebs vorausgesetzt
werden; wie für das Individuum im Kindesalter, so für die
Völker und die Menschheit in deren Kindheitsstadium. Sonst
würde das Kind auch dem Einfluss von Willen und Vernunft
des Erziehers nicht zugänglich sein, vollends ein Volk kind-
licher Menschen sich niemals durch eigene Kraft zu den höheren
Stufen emporzuarbeiten vermocht haben. Aber doch giebt es
eine Stufe, wo wenigstens ein Bewusstsein der Willensregel
noch nicht oder kaum vorhanden ist; und dann ist es nochmals
eine schwere Errungenschaft, dass auch die bewusste Richtung
auf durchgängige Einheit der Regelung sich bilde, die wir
Vernunft nennen. Mögen also auch jene drei Bestandteile der
menschlichen Aktivität so innig zusammengehören, dass die
Erziehung des Willens auf jeder Stufe alle drei zu berück-
sichtigen haben wird, so wird sie es doch auf einer ersten
Stufe vornehmlich mit der einer gesunden Willensentwicklung
zuträglichsten Gestaltung des Trieblebens, und nur hülfsweise
mit den Anfängen eigentlicher Willensleistung und den ersten
schwachen Regungen sittlicher Vernunft, auf einer zweiten
vorzugsweise mit dem Formalen der Willensregelung zu thun
haben, und erst auf der dritten zur Ausbildung des sittlichen
Bewusstseins in seiner ganzen Tiefe und Weite sich erheben
können.

Wie aber demnach die Art der willenbildenden Thätigkeit
sich dreifach gliedert, so muss auch die Organisation dieser
Thätigkeit für dieselben drei Stufen entsprechend verschieden
sein. Und diese Stufenfolge der Organisationen zur Erziehung
der Einzelnen muss in gewisser Beziehung stehen zu dem Unter-
schied in der Art und Organisation der entsprechenden sozialen
Thätigkeiten: der wirtschaftlichen, der regierenden und der
bildenden; nämlich diese drei werden, je in ihrer Eigenart und
gemäss ihrem wechselseitigen Verhältnis, daher auch in ent-
sprechender Folge, zur Erziehung des Willens im Individuum
derart mithelfen müssen, dass die Entfaltung der Arbeitstriebe
im Individuum von Anfang an Zusammenhang sucht und findet

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[194/0210] wohl Antrieb und Möglichkeit zu bewusster Regelung des Handelns, selbst zur einheitlichen Regelung gemäss der Idee der Vernunft, schon auf der Stufe des Triebs vorausgesetzt werden; wie für das Individuum im Kindesalter, so für die Völker und die Menschheit in deren Kindheitsstadium. Sonst würde das Kind auch dem Einfluss von Willen und Vernunft des Erziehers nicht zugänglich sein, vollends ein Volk kind- licher Menschen sich niemals durch eigene Kraft zu den höheren Stufen emporzuarbeiten vermocht haben. Aber doch giebt es eine Stufe, wo wenigstens ein Bewusstsein der Willensregel noch nicht oder kaum vorhanden ist; und dann ist es nochmals eine schwere Errungenschaft, dass auch die bewusste Richtung auf durchgängige Einheit der Regelung sich bilde, die wir Vernunft nennen. Mögen also auch jene drei Bestandteile der menschlichen Aktivität so innig zusammengehören, dass die Erziehung des Willens auf jeder Stufe alle drei zu berück- sichtigen haben wird, so wird sie es doch auf einer ersten Stufe vornehmlich mit der einer gesunden Willensentwicklung zuträglichsten Gestaltung des Trieblebens, und nur hülfsweise mit den Anfängen eigentlicher Willensleistung und den ersten schwachen Regungen sittlicher Vernunft, auf einer zweiten vorzugsweise mit dem Formalen der Willensregelung zu thun haben, und erst auf der dritten zur Ausbildung des sittlichen Bewusstseins in seiner ganzen Tiefe und Weite sich erheben können. Wie aber demnach die Art der willenbildenden Thätigkeit sich dreifach gliedert, so muss auch die Organisation dieser Thätigkeit für dieselben drei Stufen entsprechend verschieden sein. Und diese Stufenfolge der Organisationen zur Erziehung der Einzelnen muss in gewisser Beziehung stehen zu dem Unter- schied in der Art und Organisation der entsprechenden sozialen Thätigkeiten: der wirtschaftlichen, der regierenden und der bildenden; nämlich diese drei werden, je in ihrer Eigenart und gemäss ihrem wechselseitigen Verhältnis, daher auch in ent- sprechender Folge, zur Erziehung des Willens im Individuum derart mithelfen müssen, dass die Entfaltung der Arbeitstriebe im Individuum von Anfang an Zusammenhang sucht und findet

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/210>, abgerufen am 29.03.2024.